Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Leistungsberechtigter. wesentliche Behinderung. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten
Orientierungssatz
1. Die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung ist wertend auszurichten an den Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft. Entscheidend ist mithin nicht, wie stark die körperlichen oder geistigen Kräfte beeinträchtigt sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt (vgl BSG vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R = BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 8, Rdnr 19).
2. Die Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten nach § 55 Abs 2 Nr 6 SGB 9 können nicht auf unmittelbar wohnungsbezogene Hilfen, zB die Hilfe zum Sauberhalten der Wohnung, beschränkt werden. Der behinderte Mensch soll vielmehr dazu befähigt werden, alle wichtigen Alltagsverrichtungen in seinem Wohn- und Lebensbereich möglichst selbständig vorzunehmen (vgl BSG vom 30.6.2016 - B 8 SO 7/15 R = Sozialrecht aktuell 2017, 72).
Tenor
Der Bescheid vom 30.08.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2017 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, die Kosten für das ambulant betreute Wohnen ab dem 01.10.2016 bis zum 30.09.2019 im Umfang von 2 Fachleistungsstunden pro Woche zu übernehmen. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Übernahme von Kosten für das ambulant betreute Wohnen im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII).
Der Kläger ist im Jahr 1959 geboren, aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens bestehen bei ihm ein Anfallsleiden, eine geistige Einschränkung, eine Halbseitenlähmung und eine Sprachstörung. Er arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) und lebt in einer eigenen Wohnung. Dort erhält er einmal in der Woche Unterstützung durch eine Haushaltshilfe, die das Bad und die Küche reinigt und mit dem Kläger einen Großeinkauf erledigt. Die Kosten für die Haushaltshilfe trägt die Stadt C. Der Kläger bezieht neben seinem Einkommen aufgrund der Tätigkeit in der WfbM und einer Rente wegen Erwerbsminderung zur Sicherung seines Lebensunterhaltes ergänzend Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII.
Der Kläger wird in seiner Wohnung durch den Anbieter C1 seit dem Jahr 2003 ambulant betreut. Der Beklagte trug die Kosten zunächst im Umfang von 2,5 Fachleistungsstunden, später dann im Umfang von 2 Stunden, wobei jeweils eine halbe Stunde in ein persönliches Budget umgewandelt wurde, mit dem der Kläger Freizeitaktivitäten finanziert hat. Mit Bescheid vom 16.12.2013 bewilligte der Beklagte die Leistungen für den Zeitraum Juni 2013 bis Mai 2016.
Der Kläger beantragte am 11.05.2016 die Weiterbewilligung der Leistungen ab Juni 2016.
Der Beklagte lehnte die Weiterbewilligung mit Bescheid vom 30.08.2016 ab. Die Wohnung des Klägers sei nicht gefährdet und er verfüge über genug eigene Ressourcen, um eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen. Die Maßnahme werde daher zum 30.09.2016 beendet, der Kläger könne sich bei Problemen an die Bezirkssozialarbeit wenden oder Nachbarschaftshilfe in Anspruch nehmen.
Der Kläger legte gegen den Bescheid am 15.09.2016 Widerspruch ein. Diesen begründete er damit, dass er weiterhin Unterstützung in verschiedenen Bereichen benötige. Seine Fähigkeiten hätten sich nicht wesentlich geändert, insbesondere nicht verbessert.
Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2017 zurück. Der Kläger habe die Fähigkeit, einen eigenen Haushalt zu führen und zu erhalten. Der Unterstützungsbedarf aufgrund der körperlichen Einschränkungen werde bereits durch die Haushaltshilfe gedeckt, deren Tätigkeit könne noch um weitere Aufgaben erweitert werden. Im Übrigen könne sich der Kläger bei Problemen an die Bezirkssozialarbeit wenden oder Nachbarschaftshilfe in Anspruch nehmen. Die Gewährung von Leistungen in der Vergangenheit führe nicht dazu, dass weiterhin ein Anspruch bestehe.
Der Kläger hat am 09.05.2017 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 30.08.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Kosten für das ambulant betreute Wohnen ab dem 01.10.2016 bis zum 30.09.2019 im Umfang von 2 Fachleistungsstunden pro Woche zu übernehmen
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide, die er für rechtmäßig hält.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens der Sachverständigen Winter vom 10.04.2018. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Gutachtens Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten, die vorg...