Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Nichtanwendung bei Fehlen eines materiellen Aufenthalts- bzw Freizügigkeitsrechts. Nichtanwendbarkeit wegen Europarechtswidrigkeit. EuFürsAbk. Unzulässigkeit der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung
Orientierungssatz
1. Die Anwendung des Leistungsausschlusses für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zum Zweck der Arbeitsuche gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die erforderliche Prüfung des Grundes der Aufenthaltsberechtigung nach dem FreizügG/EU 2004 zu dem Ergebnis führt, dass kein Aufenthaltsrecht aus einem anderen Grund vorliegt und das Aufenthaltsrecht (allein) zum Zweck der Arbeitsuche positiv festgestellt werden kann. Für die positive Feststellung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche nach § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU 2004 bedarf es auch der ernsthaften Absicht, eine Arbeit aufzunehmen, was objektivierbar nach außen zum Ausdruck gebracht werden muss, und die Bemühungen zur Arbeitsuche dürfen nicht objektiv aussichtslos oder gescheitert sein.
2. Auf Unionsbürger, die sich mangels positiver Feststellung eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche und mangels Vorliegens eines anderen Aufenthaltsrechts nach dem FreizügG/EU 2004 ohne materielles Freizügigkeitsrecht im Inland aufhalten, ist der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 nicht anwendbar. Diese Unionsbürger erfüllen bis zum Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen der Ausländerbehörde bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt (Anschluss an LSG Berlin-Potsdam vom 6.3.2014 - L 31 AS 1348/13 = NZS 2014, 346).
3. Unabhängig davon, ist der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 (auch wenn durch die positive Feststellung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche der Anwendungsbereich eröffnet wäre) nicht anwendbar, weil er den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 4 EGV 883/2004 und das Gleichbehandlungsgebot des Art 24 Abs 1 der EGRL 38/2004 verletzt.
4. Der von der Bundesregierung am 19.12.2011 erklärte Vorbehalt gem Art 16 Buchst b EuFürsAbk ist unzulässig.
Tenor
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 20.09.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2012 verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab dem 01.08.2012 bis zum 08.09.2013 dem Grunde nach Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu gewähren.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung des Beklagtes zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 19 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (nachfolgend: SGB II) dem Grunde nach.
Der am 18.03.1955 in Niscemi, Italien, geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger.
Er ist seit dem 01.11.2009 in Dortmund gemeldet.
Der Kläger sprach erstmals im Dezember 2009 bei dem Beklagten vor, um Leistungen zu beantragen. Er machte geltend, er habe zuvor in Italien gearbeitet. Er konnte dabei keine genauen Angaben zu seinem bisherigen Lebenslauf machen und erklärte, ihm sei bei bzw. nach der Einreise nach Deutschland, seine Tasche mit allen Unterlagen gestohlen worden.
Zunächst wurde er auf den möglichen Bezug von Arbeitslosengeld aus Italien hingewiesen und stellte jedenfalls keinen vollständigen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II.
Von März bis September 2010 ging der Kläger einer geringfügigen versicherungsfreien Beschäftigung als Bauhelfer bei der XXX nach.
Im März 2010 sprach er erneut vor und beantragte im Hinblick auf seine geringfügige Beschäftigung als Bauhelfer aufstockende Leistungen nach dem SGB II.
Er gab dabei u. a. die XXX als seine Krankenversicherung an und nannte eine Versicherungsnummer, kreuzte aber zugleich an, derzeit nicht krankenversichert zu sein.
Bei Abgabe des Antragsformulars legte er unter anderem einen ihm am 14.01.1997 von der XXX ausgestellten Sozialversicherungsausweis (Vers.-Nr.XXX) vor. Ferner wurde ein von der Auskunfts- und Beratungsstelle der Deutschen Rentenversicherung erstellter “Druck Stammsatz„ vom 25.03.2010 zu dem Kläger, diesmal mit der Vers.-Nr. XXX, vorgelegt. Aus den dortigen Angaben ergibt sich, dass es sich bei der Vers.-Nr. XXX um eine weitere zugehörige (aber am 18.11.2005 stillgelegte) Versicherungsnummer des Klägers handelt. Eine weitere bereits am 20.01.1982 stillgelegte Vers.-Nr. lautet XXX Ferner ergibt sich daraus die Zuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover.
Außerdem legte er einen italienischen Krankenversicherungsnachweis (“Documento per l___AMPX_’_SEMIKOLONX___Xassistenza sanitaria„) des Krankenversicherers “XXX„ vor.
Nach einem anlässlich seiner SGB II-Antragstellung zusammen mit dem Beklagten erstellten “Lebenslauf„ war er vom 01.01.1969 bis 31.12.1971 in Deutschland als Maure...