Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattungsanspruch des Jugendhilfeträgers gegenüber dem Sozialhilfeträger. Anforderungen an die Geltendmachung. Einhaltung der Ausschlussfrist

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei auf § 104 SGB 10 gestützten Erstattungsansprüchen eines Jugendhilfeträgers gegenüber einem Sozialhilfeträger wegen Leistungen der Eingliederungshilfe bestimmt sich die Leistung iS des § 111 S 1 SGB 10 nach dem Leistungsbegriff des erstattungsberechtigten Jugendhilfeträgers.

2. Die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs gem § 111 S 1 SGB 10 erfordert ein unbedingtes Einfordern der Leistung, ohne dass ein Darlegen des Erstattungsanspruchs in allen Einzelheiten erforderlich wäre.

3. Zur Wahrung der Ausschlussfrist des § 111 S 1 SGB 10 für einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Maßnahmen und Hilfen, die jugendhilferechtlich als eine Leistung zu werten sind, genügt jede während der laufenden Hilfe oder innerhalb der Frist des § 111 S 1 SGB 10 erfolgende Geltendmachung des Anspruchs.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 04.04.2019; Aktenzeichen B 8 SO 11/17 R)

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 117.823,73 € zu zahlen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von dem Beklagten gestützt auf § 104 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Erstattung von Kosten, die sie in der Zeit vom 01.07.2009 bis einschließlich zum 31.12.2010 im Hilfefall des XXX (fortan: Hilfeempfänger) als Hilfe zur Erziehung in einer betreuten Wohnform nach §§ 24, 34 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) aufgewandt hat.

Der am 25.02.1998 geborene Hilfeempfänger ist hochgradig schwerhörig. Er ist auf der rechten Seite mit einem Cochlea-Implantat versorgt. Infolge der ausgeprägten Schwerhörigkeit besteht eine allgemeine Sprach- und Entwicklungsstörung. Seit November 1999 erhält er Leistungen nach dem Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose (GHBG). Mit Bescheid vom 18.02.2000 wurde beim Hilfeempfänger ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche G, B, H und RF festgestellt. Nach erheblichen Konflikten zwischen den geschiedenen Eltern des Hilfeempfängers untereinander und mit dem Hilfeempfänger gewährte die Klägerin dem Hilfeempfänger auf Antrag der gemeinsam sorgeberechtigten Eltern vom 30.06.2009 seit dem 01.07.2009 Hilfe zur Erziehung in einer betreuten Wohnform nach §§ 27, 34 SGB VIII durch Unterbringung in der Wohngruppe für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche des XXX in XXX, wo er seitdem auch die Förderschule für Hören und Kommunikation besucht. Die Hilfe wird seit dem 01.07.2009 ohne wesentliche inhaltliche Änderungen und ohne Unterbrechung gewährt.

Mit dem am 15.09.2012 bei dem Beklagten eingegangenen Schreiben vom 14.09.2012 bat die Klägerin den Beklagten, den Hilfefall in seine Zuständigkeit zu übernehmen und ihren auf § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützten Anspruch auf Kostenerstattung hinsichtlich der bisher gewährten Hilfe anzuerkennen. Die Klägerin habe als gegenüber dem Beklagten nachrangig verpflichteter Leistungsträger Leistungen erbracht. Denn sowohl die Klägerin als zuständiger Jugendhilfeträger nach Maßgabe der §§ 27, 34 SGB VIII als auch der Beklagte als im konkreten Fall für die Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) zuständiger Sozialhilfeträger nach Maßgabe der §§ 53, 54 SGB XII seien gegenüber dem Hilfeempfänger leistungspflichtig. Da die nach dem SGB VIII und SGB XII zu erbringenden Leistungen deckungsgleich seien, ergebe sich der Vorrang der Leistungspflichten des Beklagten gegenüber dem i.S.v. § 1 Nr. 5 Eingliederungshilfeverordnung körperlich behinderten Hilfeempfänger aus § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII und begründe den geltend gemachten Anspruch auf Fallübernahme und Kostenerstattung.

Nachdem die Klägerin dem Beklagten auf seinen Wunsch hin weitere Unterlagen zum Hilfefall übersandt hatte - u.a. die letzten drei Hilfepläne, den Antrag auf Hilfe sowie das Schulzeugnis des Hilfeempfängers vom 06.07.2012 - erklärte der Beklagte sich im Schriftsatz vom 14.11.2013 bereit, den Hilfefall ab dem 01.01.2014 in eigener Zuständigkeit zu übernehmen und erkannte einen Erstattungsanspruch der Klägerin für den Zeitraum ab dem 15.09.2012 an.

Mit Schriftsatz vom 26.11.2013 machte die Klägerin geltend, auch für den Zeitraum vom 01.07.2009 bis zum 14.09.2012 erstattungsberechtigt zu sein. Insbesondere sei die Ausschlussfrist des § 111 SGB X gewahrt, da eine laufende Jugendhilfeleistung diese Frist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) nicht in Gang setzen könne. Da der Erstattungsanspruch für das Jahr 2009 zum 31.12.2013 zu verjähren drohe, bat die Klägerin bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage hinsichtlich des vor dem 15.09.2012 liegenden Zeitraums um einen Verzicht auf die Einrede der Verjährung durch den Beklagten. Mit Schriftsatz vom 12.12.2013 teilte der Beklagte mit, dass er auf die Einrede der Verjährung verzich...

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