Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. abschließende Entscheidung über zunächst vorläufig beschiedene Leistungsansprüche. Verpflichtung zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen. Umfang der Mitwirkungsobliegenheit. Termin zur Vorlage von Beweisurkunden. fehlerhafte Rechtsfolgenbelehrung. Zurückweisung von Originalurkunden. Anwendbarkeit des § 41a SGB 2 auf vor dem 1.8.2016 beendete Bewilligungszeiträume. angemessene Fristsetzung
Leitsatz (amtlich)
1. § 41a Abs 3 S 2 SGB II statuiert keine eigenständigen, über §§ 60ff SGB I hinausgehenden Mitwirkungsobliegenheiten. §§ 20, 21 SGB X sind anzuwenden.
2. Begehrt der Leistungsempfänger einen Termin zur Vorlage von Beweisurkunden für die endgültige Festsetzung, muss der Beklagte diese Möglichkeit einräumen und einen Termin vorschlagen (vgl SG Dresden vom 27.3.2018 - S 20 AS 914/18 ER).
3. Die Zurückweisung von Originalurkunden zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen ist unzulässig. Ein entsprechender Hinweis macht die Rechtsfolgenbelehrung nach § 41a Abs 3 S 3 SGB II fehlerhaft.
4. § 41a SGB II findet mit Ausnahme des Abs 5 auf die Bewilligungszeiträume, die vor dem 1.8.2016 bereits beendet waren, keine Anwendung (Festhaltung an SG Dresden vom 11.1.2018 - S 52 AS 4077/17).
5. Die Länge der nach § 41a Abs 3 S 3 SGB II zu setzenden Frist bemisst sich nach den Einzelfallumständen. (Festhaltung an SG Dresden vom 11.1.2018 - S 52 AS 4382/17).
Orientierungssatz
Eine Fristsetzung und Rechtsfolgenbelehrung vor Ablauf des Bewilligungszeitraums ist zulässig, insbesondere wenn sie gegen Ende des Bewilligungszeitraums erfolgt. Maßgeblich für die Angemessenheit der Frist ist dann der Zeitraum zwischen Ende des Bewilligungszeitraums und Fristende.
Tenor
I. Die Festsetzung- und Erstattungsbescheide vom 10.07.2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 27.10.2017 werden ohne Sachentscheidung aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Sachentscheidung über die endgültigen Leistungsansprüche der Klägerin vom 01.01.2015 bis 31.12.2016 an den Beklagten zurückverwiesen.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des endgültigen Leistungsanspruchs der Klägerin im Zeitraum 01.01.2015 bis 31.12.2016 und vier Erstattungsbescheide des Beklagten über insgesamt 11.716,26 €.
Die 1964 geborene, in Deutschland allein lebende und erwerbsfähige Klägerin war im streitbefangenen Zeitraum als Änderungsschneiderin selbständig tätig. Sie verfügte neben Kontoguthaben in Höhe von 350 € über kein weiteres Vermögen. Sie bezog ergänzend zu den Einkünften aus selbständiger Tätigkeit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Beklagten.
Die Klägerin steht seit 2005 im Leistungsbezug beim Beklagten, zunächst alleinerziehend mit ihren beiden Kindern. Sie ging geringfügigen Beschäftigungen nach, u. a. als Näherin. Zum 09.11.2009 machte sie sich mit einer Änderungsschneiderei selbständig. Sie mietete die Gewerberäume A.... 22 in D.... an, in denen sie ihr Gewerbe nach wie vor betreibt. Dort verfügt sie auch über einen gewerblichen Telefonanschluss.
Am 07.07.2014 sprach die Klägerin beim Beklagten vor. Sie übergab einen Ordner mit Buchhaltungsunterlagen für 2013 im Original, den der Beklagte zum Zwecke der endgültigen Festsetzung für 2013 entgegennahm.
Der Beklagte hält ein Kopiergerät vor, an dem Antragsteller kostenfrei Kopien in Leistungsangelegenheiten fertigen können. Dies war der Klägerin nicht bekannt. Schriftlich erfolgte zu keiner Zeit ein Hinweis an die Klägerin, dass die Möglichkeit bestünde, beim Beklagten kostenfrei Kopien in Leistungsangelegenheiten zu fertigen. Gerichtsbekannt ist, dass in Verfahren mit Beteiligung des Beklagten, die in der 52. Kammer des Sozialgerichts Dresden anhängig sind, kein Leistungsbezieher schriftlich auf die Möglichkeit, beim Beklagten kostenfrei Kopien in Leistungsangelegenheiten zu fertigen, hingewiesen wurde.
Die Klägerin beantragte am 07.10.2014 beim Beklagten Fortzahlung der Leistungen. Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 02.12.2014 vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 505,27 € (212,80 € Regelbedarf und 292,47 € Bedarf für Unterkunft und Heizung) für den Zeitraum 01.01.2015 bis 30.06.2015.
Die Klägerin beantragte am 11.05.2015 beim Beklagten Fortzahlung der Leistungen. Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 03.06.2015 vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 273,56 € (kein Regelbedarf und 273,56 € Bedarf für Unterkunft und Heizung) für den Zeitraum 01.07.2015 bis 31.12.2015.
Die Klägerin beantragte am 30.12.2015 beim Beklagten Fortzahlung der Leistungen. Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 06.01.2016 vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 800,38 € (230,38 € Regelbedarf und 570,00 € Bedarf für Unterkunft und Heizung) für den Zeitraum 01.01.2016 bis 30.06.2016.
Zum 21.12.2015 zo...