Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittel. Brems- und Schiebehilfe bei vollstationärer Pflege
Orientierungssatz
1. Das Grundbedürfnis auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums umfasst bei vollstationärer Pflege auch das Aufsuchen des Nahbereichs außerhalb des Geländes des Pflegeheims. Dies gilt auch dann, wenn der Versicherte nicht mehr in der Lage ist, einen Willen zur Bestimmung des Aufenthalts zu bilden oder mitzuteilen.
2. Eine Vorschrift in einem Rahmenvertrag gem § 75 Abs 1 SGB 11, nach der die Pflegeinrichtung den Versicherten auch bei Aktivitäten des täglichen Lebens außerhalb des Pflegheim zu unterstützen hat, befriedigt weder das Grundbedürfnis auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums noch schränkt sie dieses Grundbedürfnis ein.
3. Zur Frage, auf welche Person bei der Prüfung der Erforderlichkeit einer Brems- und Schiebehilfe abzustellen ist.
Nachgehend
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2011 verurteilt, die Kosten für eine Brems- und Schiebehilfe zu übernehmen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger eine elektrische Brems- und Schiebehilfe (BuS) zu gewähren hat.
Der am 1958 geborene Kläger leidet bei Zustand nach einem diabetischen Koma an einem Apallischen Syndrom. Bei ihm wurde die Pflegestufe III festgestellt. Er lebt in der von der Beigeladenen betriebenen Facheinrichtung Intensivpflege, K. Der Kläger ist auf einen Rollstuhl angewiesen, den er nicht selbst bewegen kann. Zuletzt wurde er durch die Beklagte mit einem Multifunktionsrollstuhl versorgt (Bewilligungsbescheid vom 05.08.2009). Seine in den Jahren 1936 bzw. 1937 geborenen Eltern besuchen den Kläger regelmäßig überwiegend abwechselnd, teilweise gemeinsam mindestens fünfmal wöchentlich in dem Pflegeheim. Dabei unternehmen sie im Rahmen ihrer Kräfte Spaziergänge außerhalb des Geländes des Pflegeheimes im näheren fußläufigen Umfeld. Sie suchen unter anderem mit dem Kläger eine in unmittelbarer Nähe der Facheinrichtung gelegene Teichanlage auf, um dort mit dem Kläger für einige Zeit zu verweilen.
Unter Vorlage einer Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin H. vom 13.12.2010 beantragte die Firma I. für den Kläger mit Kostenvoranschlag vom 17.12.2010, wonach sich die Kosten für eine BuS auf 4.245,70 € belaufen, die Kostenübernahme für das streitgegenständliche Hilfsmittel.
Mit Bescheid vom 17.01.2011 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Für die BuS bestehe keine Möglichkeit der Kostenübernahme. Ihre Nutzung sei an die Unterstützung der Pflegepersonen gebunden. Pflegepersonen seien die im Pflegeheim angestellten Mitarbeiter. Bei der Frage, wer die Schiebehilfe bediene, müsse auf eine feste Bezugsperson abgestellt werden. Dies diene dem Schutz der Verhältnismäßigkeit und Wirtschaftlichkeit. Ohne Bezug auf die zur Unterstützung der generellen Rollstuhlnutzung notwendigen Personen könnten Antragsteller jederzeit geltend machen, dass Schiebehilfen für kräftemäßig reduzierte Personen zu finanzieren seien. Dies sei durch die Solidargemeinschaft nicht leistbar.
Mit ihrem unter dem 04.02.2011 eingelegten Widerspruch wies die Mutter und gesetzliche Vertreterin des Klägers darauf hin, dass der Rollstuhl nicht nur Mittel zur Mobilisation sei, sondern auch eine Möglichkeit, örtlich mobil zu sein. Sie und ihr Mann besuchten den Kläger fast täglich und gingen mit ihm bei Wind und Wetter spazieren. So ermöglichten sie ihm, Zeit an der frischen Luft und andere Eindrücke durch die wechselnde Umgebung zu gewinnen. Mittlerweile sei die sichere Nutzung des Rollstuhls nicht mehr gegeben. Der Kläger wiege ca. 65 Kilogramm und der Rollstuhl ca. 35 Kilogramm. Aufgrund der bergigen Landschaft sei das Schieben aufgrund ihres Gesundheitszustandes risikoreich geworden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 03.03.2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Bestehe im Fall der vollstationären Pflege der Verwendungszweck eines Hilfsmittels ganz überwiegend und schwerpunktmäßig darin, die Durchführung der Pflege zu ermöglichen oder zu erleichtern, so begründe allein die Tatsache, dass es auch dem Behinderungsausgleich diene, nicht die Leistungspflicht der Krankenkassen. Vielmehr sei dann das Pflegeheim dazu verpflichtet, den Versicherten mit dem Hilfsmittel zu versorgen. Der Lebensmittelpunkt sei die Facheinrichtung Intensivpflege. Für Bewohner dieser Facheinrichtung würden im Rahmen der aktivierenden Pflege Alltagsgeschäfte von dem Träger organisiert und lägen somit in dessen Verantwortungsbereich. An die Stelle der Pflegeperson/Begleitperson trete das Pflegepersonal der stationären Einrichtung. Nur wenn diese Personen nicht in der Lage seien sollten, den Kläger im Rollstuhl zu schieben, gehöre eine BuS in die Ausstattung der Einrichtung und müsse vom Heimträger finanziert werde...