Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag. Verfassungsmäßigkeit. Europarechtswidrigkeit
Orientierungssatz
1. Die Auffassung des 4. Senats des BSG im Urteil vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3 und des SG Lübeck vom 26.4.2007 - S 14 R 191/07 sowie des LSG Essen vom 9.5.2007 - L 8 R 353/06, wonach aus § 77 Abs 2 S 3 SGB 6 folge, dass Bezugszeiten einer Rente wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 60. Lebensjahres keine vorzeitigen Bezugszeiten seien, weshalb bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor 1,0 für die Rente gelte, hält die Kammer nicht für überzeugend (Anschluss an SG Aachen vom 9.2.2007 - S 8 R 96/06 = NZS 2007, 322).
2. Die Auffassung des 4. Senats des BSG im Urteil vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R aaO, wonach jüngere Versicherte durch die verlängerte Zurechnungszeit eine höhere Rente als vor 2001 erhalten sollen, während nur über 60-jährige Rentner deutliche Abschläge hinnehmen müssten, führt zu einer willkürlichen Ungleichbehandlung dieser Rentnergruppe, die mit Art 3 GG nicht zu vereinbaren wäre und wegen des Verbots der Diskriminierung wegen Alters europarechtswidrig ist (vgl EuGH vom 22.11.2005 - C-144/04).
3. Die Regelung über die Verminderung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrentnern verstößt nicht gegen das GG.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Rente des Klägers wegen Erwerbsminderung (EWM) mit dem Zugangsfaktor 1,00 zu berechnen ist.
Der 1949 geborene Kläger bezieht auf Grund gerichtlichen Vergleichs im Verfahren S 34 (25) R 48/04 Rente wegen teilweiser EWM auf Dauer ab 01.09.2003, die ihm mit Berscheid vom 02.03.2007 bewilligt wurde. Bei der Rente erkannte die Beklagte im Versicherungsverlauf eine 67-monatige Zurechnungszeit vom 08.08.2003 bis 31.03.2009 an und verminderte den Zugangsfaktor 1,00 für die Zeit nach dem 30.09.2009 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres um monatlich 0,003. Sie errechnete damit für 33 Kalendermonate eine Verminderung von 0,099, so dass sie die sich aus dem Versicherungsverlauf ergebenden persönlichen Entgeltpunkte (EP) von 33,2410 mit 0,901 multiplizierte und der Rentenberechnung 29,9501 EP zugrunde legte. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, der bei der Beklagten am 13.03.2007 einging. Zur Begründung berief er sich auf ein Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R -, wonach die Kürzung des Zugangsfaktors vor Vollendung des 60. Lebensjahres unzulässig sei. Er bat um umgehende Bescheidung. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.07.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, das Urteil des 4. Senats des BSG stehe im Widerspruch zur geltenden Rechtslage und zu den Intentionen des Gesetzgebers, zumal zeitgleich mit der Verminderung des Zugangsfaktors durch § 77 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) eine Anhebung der Zurechnungszeit nach § 59 SGB VI erfolgt sei, um die Härten der Rentenminderung zu mildern. Besonders deutlich werde dieser Zusammenhang auch durch die §§ 253 a, 264 c SGB VI jeweils in Verbindung mit der Anlage 23 zum SGB VI: Nur in dem Umfang, in dem eine zusätzliche Zurechnungszeit stufenweise zu berücksichtigen sei, mindere sich auch der Zugangsfaktor.
Am 12.07.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt unter Hinweis auf ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Lübeck - S 14 R 191/07 - sein bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, die von der Beklagten vorgenommene Ausdeutung der gesetzlichen Vorschriften führe zu einem Verstoß gegen Art. 3 Grundgesetz (GG), da die Abschläge für Rentner, deren Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres wegfalle, nicht kompensierbar seien. Im übrigen dürften EWM-Rentner und Altersrentner nicht mit den gleichen Abschlagsregelungen versehen werden, da nur Altersrentner frei entscheiden könnten, ob sie die Rente vor Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch nehmen wollten. Die Abschlagsregelung verstoße auch gegen Art. 2 GG, da Pflichtversicherte keinen Einfluss auf die Höhe der Beiträge und die ihnen dafür geschuldete Leistung hätten. Auch verbiete das Sozialstaatsprinzip Rentenkürzungen von nicht selten 10,8 %, da insoweit nicht privat zusatzversicherte Rentner in wirtschaftliche Bedrängnis gerieten, ohne dass dies vorhersehbar gewesen sei. Das Argument der verbesserten Zurechnungszeiten sei nicht durchschlagend, da es nicht nachvollziehbar sei, weshalb Versicherten einerseits etwas gegeben, andererseits aber etwas genommen werde.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 02.03.2007 und unter Aufhebung ihres Widerspruchsbescheides vom 05.07.2007 zu verurteilen, seine Rente wegen teilweiser EWM unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,00 zu berechnen und den Differenzbetrag, der sich ab 01.09.2003 ergibt...