Entscheidungsstichwort (Thema)

Unabweisbarkeit des Bedarfs als Voraussetzung der Bewilligung eines Mehrbedarfs durch den Grundsicherungsträger

 

Orientierungssatz

1. Leistungsberechtigten des SGB 2 wird nach § 21 Abs. 6 S. 1 SGB 2 ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Zu einem menschenwürdigen Existenzminimum gehört es, den Wunsch nach einer späteren Familiengründung durch Einlagerung von Keimmaterial sicherzustellen, wenn der Verlust der Zeugungsfähigkeit, u. a. infolge Chemotherapie, bevorsteht (BVerfG Beschluss vom 12. 5. 1987, 2 BvR 1226/03).

2. Der geltend gemachte Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn dem Grundsicherungsberechtigten keine Einsparungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um den entsprechenden Bedarf zu decken. Ist dieser mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in der Lage, den insoweit erforderlichen jährlichen Bedarf von 300.- €. mit monatlichen Einsparungen von ca. 30.- €. zu decken, so ist die Bewilligung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 S. 1 SGB 2 ausgeschlossen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 26.11.2020; Aktenzeichen B 14 AS 23/20 R)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Mehrbedarfs nach dem Sozialgesetzbuch II. Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Einlagerung von Keimmaterial des Klägers.

Der am 21.01.19xx geborene Kläger lebt in Bedarfsgemeinschaft mit seinen Eltern und seinen minderjährigen Geschwistern und steht mit diesen im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheide vom 18.04.2017 und Änderungsbescheiden vom 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 bewilligte die Beklagte den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum Mai 2017 bis April 2018, wobei das für den Kläger gezahlte Kindergeld in Höhe von monatlich 192,00 EUR unter Absetzung einer Versicherungspauschale in Höhe von monatlich 30,00 EUR zunächst auf den Gesamtbedarf und seit dem Änderungsbescheid vom 05.09.2017 für die Zeit ab Oktober 2017 auf den Bedarf des Klägers angerechnet wurde.

Da der Kläger unter einem schweren Immundefekt leidet, ließ er im Jahr 2014 zwei Kno-chenmarktransplantation durchführen (vgl. ärztliche Bescheinigungen Bl. 38 f. und 49 d.A.). Da durch die vorbereitende Chemotherapie mit einer irreversiblen Schädigung der Hoden zu rechnen war (vgl. Bescheinigung der Universitätsklinik Bochum Bl. 38 d.A.), ließ der Kläger zuvor Keimmaterial bei der Fa. C. einlagern, wofür jährliche Kosten i.H.v. 297,50 EUR inklusive Mehrwertsteuer anfallen, die jeweils im Monat September fällig sind (vgl. Vertrag und Rechnungen Bl. 493 ff. der Leistungsakte). Nach Durchführung der ärztlichen Behandlungen wurde die Unfruchtbarkeit des Klägers ärztlich festgestellt (vgl. Auskunft Bl. 51 d.A.). Die entstehenden Kosten werden von der Krankenversicherung des Klägers nicht übernommen (siehe Bl. 33 f. d.A.). Am 06.10.2017 stellte der Vater des Klägers für diesen einen Antrag auf besondere Bedarfe für die Einlagerung des Keimmaterials in Höhe von 297,50 EUR jährlich. Dabei gab er an, sein Sohn sei aufgrund einer Chemotherapie und zweier Knochenmarkstransplantationen unfruchtbar geworden. Da dies vor Behandlungsbeginn schon absehbar gewesen sei, sei Sperma zur Erfüllung eines späteren Kinderwunsches kyrokonserviert worden (vgl. Bl. 491 ff. der Leistungsakte). Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12.10.2017 ab, den sie damit begründete, der Kläger könne die Versicherungspauschale für das gezahlte Kindergeld einsetzen, weshalb der geltend gemachte Bedarf nicht unabweisbar sei. Gegen diesen Bescheid erhob der anwaltlich vertretene Kläger am 09.11.2017 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2018 als unbegründet zurückwies. Hiergegen erhob der anwaltlich vertretene Kläger am 03.05.2018 Klage vor dem erkennenden Gericht.

Der Kläger trägt vor, der anfallende Bedarf sei ein laufender Bedarf, der erheblich von dem Bedarf anderer Leistungsempfänger abweiche. Der Bedarf sei auch unabweisbar, wenn dem Kläger die Möglichkeit belassen werden solle, Nachkommen zu zeugen. Die Härtefallregelung nach § 21 Abs. 6 SGB II solle für die Finanzierung von Hygieneartikeln, die Wahrnehmung des Umgangsrechts und Haushaltshilfen gewährt werden. Die Bedeutung dieser Bedarf trete erheblich hinter dem hier streitgegenständlichen Bedarf zurück.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18.04.2017 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 und 12.10.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2018 zu verur-teilen, dem Kläger einen Mehrbedarf in Höhe von jährlich 297,50 EUR für die Einlagerung seines Keimmaterials zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf den Widerspruchsbescheid. Der geltend gemacht...

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