Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. dauerhafte volle Erwerbsminderung. Durchlaufen des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer WfbM

 

Leitsatz (amtlich)

Eine positive Feststellung der vollen dauerhaften Erwerbsminderung ist während des Besuchs des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) nicht notwendig, um einen Grundsicherungsanspruch zu begründen. Die volle Erwerbsminderung kann vielmehr fingiert werden.

 

Tenor

1. Der Bescheid des Beklagten vom 16.10.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.1.2018 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte wird dem Grunde nach verpflichtet, der Klägerin Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII ab dem 1.7.2017 zu bewilligen.

3.Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung von laufenden Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII ab Juli 2017.

Die am … 19.. geborene Klägerin ist an Trisomie 21 („Down-Syndrom“) erkrankt. Dies äußert sich in einer geistigen Behinderung. Bei der Klägerin besteht ein genereller geistiger Entwicklungsrückstand; außerdem eine Hörstörung und sprachliche Artikulationsstörung. Die Klägerin ist als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 und den Merkzeichen G und B anerkannt. Die Pflegeversicherung hat bei ihr einen Pflegegrad von 4 (vormals Pflegestufe 2) festgestellt.

Die Eltern der Klägerin sind für sie als Betreuer bestellt. Die Klägerin lebt im Haushalt ihrer Eltern in M., gemeinsam mit zwei weiteren Geschwistern. Die Familie bewohnt ein Eigenheim, für das monatliche Kosten (Heizkosten, sonstige Nebenkosten sowie Zins und Tilgung für einen zur Renovierung des Hauses aufgenommenen Kredit) von monatlich 1.209,20 € entstehen. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern der Klägerin sind nicht bekannt.

Die Klägerin wurde am 12.12.2016 in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), dem Werkzentrum S. e. V. in M., aufgenommen, den sie seither absolviert. Zuvor besuchte sie ein Sonderschulzentrum.

Die Klägerin bezieht monatlich 728,00 € Pflegegeld von der Pflegeversicherung sowie 75,24 € Ausbildungsgeld im Rahmen von Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben nach dem SGB III von der Bundesagentur für Arbeit. Ihre Eltern beziehen für sie Kindergeld. Die Klägerin verfügt über ein Sparguthaben, welches im Juli 2017 2.915,31 € betrug.

Am 28.7.2017 beantragte die Mutter der Klägerin als Betreuerin für diese die Gewährung von laufenden Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII beim Beklagten.

Mit Bescheid vom 16.10.2017 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die beantragte Grundsicherung bei voller Erwerbsminderung im Sinne des § 41 Abs. 3 SGB XII könne nicht gewährt werden, weil nicht feststehe, das die Klägerin tatsächlich auf Dauer voll erwerbsgemindert im Sinne des Rentenversicherungsrechts sei. Dies werde in der Regel durch eine Begutachtung durch den Rentenversicherungsträger auf Ersuchen des Sozialhilfeträgers hin geklärt, § 45 Abs. 1 SGB XII. Diese Ersuchen sei aber vorliegend nicht erfolgt, weil es für Personen, die – wie die Klägerin – den Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer WfbM durchlaufen, nach § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII nicht gestellt werden könne. Es sei vielmehr das Ergebnis dieser Phase abzuwarten. Sie diene gerade dazu, das individuelle Leistungsvermögen des Betroffenen auszuloten. Erst an deren Ende gebe der Fachausschuss der Werkstatt eine entsprechende Stellungnahme ab. Dem könne nicht vorgegriffen werden. Die positive Feststellung des Vorliegens einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer – als Voraussetzung für einen Grundsicherungsanspruch - könne daher erst nach Abschluss des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs der WfbM erfolgen. Die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII komme ebenfalls nicht in Betracht. Denn Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II seien diesen gegenüber vorrangig. Soweit die Einkommens- und Vermögenssituation der Familie der Klägerin dies erforderlich mache, könnten die Eltern der Klägerin gemeinsam mit ihren Kindern als Bedarfsgemeinschaft Arbeitslosengeld II nach dem SGB II beim Jobcenter beantragen. Auch ein Anspruch auf Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) komme in Betracht. Leistungen nach dem SGB XII könnten aber nicht gewährt werden.

Am 2.11.2017 legte die Mutter der Klägerin als Betreuerin für diesen Widerspruch gegen den Bescheid vom 16.10.2017 ein. Der Beklagte verneine rechtsfehlerhaft den Anspruch auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung, weil er annehme, dass das Vorliegen oder Fehlen voller Erwerbsminderung der Klägerin nicht ermittelt werden könne bzw. dürfe, weil nach § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII kein Ersuchen zur Begutachtung an den Rentenversicherung...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?