Entscheidungsstichwort (Thema)

Erweiterung des Versicherungsschutzes in der gesetzlichen Unfallversicherung durch Satzungsrecht des Unfallversicherungsträgers. gemeinnützige Tätigkeit

 

Orientierungssatz

1. Zur Anerkennung eines Unfallereignisses als Arbeitsunfall nach § 8 Abs. 1 SGB 7 ist u. a. erforderlich, dass die Verrichtung, die der Versicherte zur Zeit des Unfalls ausübt, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sein muss.

2. § 3 Abs. 1 Nr. 4 SGB 7 ermächtigt den Unfallversicherungsträger in der Satzung zu bestimmen, dass und unter welchen Bedingungen sich die Versicherung erstreckt auf ehrenamtlich Tätige und bürgerschaftlich Engagierte.

3. Weil das SGB 7 eine Definition gemeinnütziger Zwecke nicht enthält, kann auf § 52 der Abgabenordnung (AO) zurückgegriffen werden. Danach verfolgt eine Körperschaft gemeinnützige Zwecke, wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern.

4. Ist Zweck eines Vereins die Pflege des Chorgesangs im Dienst der Öffentlichkeit, so gehört hierzu auch der Auftritt als Chor in der Öffentlichkeit, u. a. in einer Kirche. Verunglückt ein Chormitglied auf dem Weg von der Wohnung zum Auftritt in der Kirche, so steht das Unfallereignis unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 08.12.2022; Aktenzeichen B 2 U 19/20 R)

 

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 1. März 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2018 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass der Unfall am 3. Dezember 2016 ein Arbeitsunfall ist. 2. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Unfalls vom 3. Dezember 2016 als Arbeitsunfall.

Die 1965 geborene Klägerin ist Mitglied des ... e.V. und tritt mit dem ... in der Öffentlichkeit auf.

Am 3. Dezember 2016 erlitt die Klägerin auf dem Weg von ihrer Wohnung in ... zu einem Auftritt des ... in der Kirche des ... einen Verkehrsunfall, bei dem sie sich eine Humerusfraktur, eine Kieferhöhlenfraktur, eine Fraktur des 6. und des 7. Halswirbels, eine Brustwirbelfraktur T4 und eine Rippenserienfraktur zuzog.

Am 23. November 2017 zeigte die Klägerin den Unfall der Beklagten an und berief sich auf deren Zuständigkeit nach § 34 der Satzung der Beklagten (nachfolgend Satzung). Die Beklagte leitete den Antrag unter dem 1. Dezember 2017 an die VBG weiter. Die VBG nahm die Ermittlungen auf.

Unter dem 3. Januar 2018 teilte die Vorsitzende des ... e.V. mit, das ... habe ihnen lediglich die Räumlichkeiten der Kirche in ... für den Auftritt zur Verfügung gestellt. Es habe sich nicht um einen Auftritt im Auftrag der ... Kirchengemeinde oder des ... gehandelt. Unter dem 16. Januar 2018 teilte der Pfarrer des ... mit, der Auftritt sei in gegenseitigem Einvernehmen erfolgt. Die Kirchengemeinde habe ihre Räumlichkeiten dem zur Verfügung gestellt. Eine spezielle Vereinbarung dazu habe es nicht gegeben.

Die Beklagte erhielt die Vereinssatzung des ... e.V. vom 10. Oktober 2016 (nachfolgend Vereinssatzung) die auszugsweise wie folgt lautet:

§ 3 Zweck und Steuerbegünstigung

1. Der Verein verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige/mildtätige/kirchliche Zwecke im Sinne des Abschnitts "steuerbegünstigte Zwecke" der Abgabenordnung. Zweck des Vereins ist die Pflege des Chorgesangs: a. Durch regelmäßige Proben bereitet sich die Chorgruppe für Konzerte und andere musikalische Veranstaltungen vor. Sie stellen sich dabei auch in den Dienst der Öffentlichkeit. b. Der Verein ist selbstlos tätig; er verfolgt nicht in 1. Linie eigenwirtschaftliche Zwecke. c. Mittel des Vereins dürfen nur für die satzungsmäßigen Zwecke verwendet werden. Die Mitglieder erhalten keine Zuwendungen aus den Mitteln des Vereins. Es darf keine Person durch Ausgaben, die dem Zweck des Vereins fremd sind, oder durch unverhältnismäßig hohe Vergütungen begünstigt werden.

Mit Bescheid vom 25. Januar 2018 lehnte es die VBG ab, Leistungen aus Anlass des Unfalles vom 3. Dezember 2016 zu gewähren, weil die Klägerin im Unfallzeitpunkt nicht bei ihr versichert gewesen sei.

Mit Bescheid vom 1. März 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2018 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfalls vom 3. Dezember 2016 als Arbeitsunfall ab.

Mit der am 3. Juli 2018 vor dem Sozialgericht Halle erhobenen Klage verfolgt die Klägerin die Anerkennung des Unfalls vom 3. Dezember 2016 als Arbeitsunfall weiter. Die Klägerin trägt vor, sie sei im Zeitpunkt des Unfalls nach § 34 Abs. 2 der Satzung bei Beklagten versichert gewesen. Von dieser Vorschrift würden Aufgaben umfasst, die im öffentlichen Interesse lägen oder gemeinnützige bzw. mildtätige Zwecke förderten. Neben ehrenamtlich Tätigen seien auch bürgerschaftlich Engagierte geschützt. Auch der Sinn und Zweck der Satzungsregelung spreche für einen Versicherungsschutz. Entscheidend sei nicht nur, dass die Organisation an sich gemeinnützig, sondern auch die konkrete...

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