Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Anspruch auf Versorgung mit einer Spracherkennungssoftware zur Teilnahme am Schulunterricht. großzügigerer Maßstab bei Kindern und Heranwachsenden
Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der an einer Bilateralen Zerebralparese leidet, kann für die Teilnahme am Schulunterricht die Versorgung mit einer Spracherkennungssoftware beanspruchen.
Orientierungssatz
Bei Kindern und Heranwachsenden ist bei der Hilfsmittelversorgung ein großzügigerer Maßstab anzulegen, um ihrer weiteren Entwicklung Rechnung zu tragen.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.05.2023 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 28.09.2023 verurteilt, die Kosten für die Spracherkennungssoftware Dragon Professional Individual und ein Headset zu übernehmen.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Kostenübernahme für die Spracherkennungssoftware Dragon Professional Individual nebst einem Headset.
Der 2008 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet seit Geburt an Bilateraler Zerebralparese (GMFCS IV). Er besucht die S.-Schule in N., ein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung.
Am 18.04.2023 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage des Angebots der Firma R. vom 21.03.2023 und des Kostenvoranschlags vom 18.04.2023 (2.365,72 Euro) sowie der Verordnung der Ärztin des Sozialpädiatrischen Zentrums M. B. vom 04.04.2023 (Diagnose: Bilaterale Zerebralparese, GMFCS IV) und einer Stellungnahme seiner Schule vom 22.03.2022 die Kostenübernahme für die Spracherkennungssoftware Dragon Professional Individual nebst einem Headset.
Daraufhin beauftrage die Beklagte den Medizinischen Dienst (MD) mit einer Begutachtung. Dr. B. führte in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 24.04.2023 aus, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung nicht erfüllt seien. Es sei nachvollziehbar, dass der Kläger (Diagnose: Spastische tetraplegische Zerebralparese) die Kostenübernahme für die Spracherkennungssoftware beantragt habe, um Texte einfacher und schneller schreiben zu können. Allerdings handle es sich bei der Spracherkennungssoftware nebst Zubehör um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 16.09.1999 (Az. B 3 KR 1/99 R , in juris) hierzu ausgeführt:
· Was regelmäßig auch von Gesunden benutzt werde, falle auch bei hohen Kosten nicht in die Leistungspflicht der Krankenversicherung.
· Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt sowie hergestellt worden seien und die ausschließlich oder ganz überwiegend auch von diesem Personenkreis benutzt würden, seien nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen.
· Es handle sich um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, wenn er schon von der Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke und Behinderte gedacht sei.
Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens begründeten an sich keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.
Gestützt auf das Ergebnis der Begutachtung lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 19.05.2023 ab. Die medizinischen Voraussetzungen für die Kostenübernahme seien nicht gegeben, da es sich bei der beantragten Spracherkennungssoftware nebst Headset um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handle.
Hiergegen erhob der Kläger am 12.06.2023 unter Vorlage einer Stellungnahme der Assistenzärztin des Kinderzentrums M. B. vom 24.05.2023 Widerspruch. Er leide seit Geburt unter Zerebralparese. Er sitze im Rollstuhl und sein ganzer Körper sei betroffen, die linke Seite stärker als die rechte. Im Alltag und in der Schule sei er eingeschränkt. Er sei körperlich nicht in der Lage über einen längeren Zeitraum zu schreiben. Die Spastik mache ihm hierbei Probleme. Deshalb müsse in der Schule nach einiger Zeit immer jemand seine Mitschriften übernehmen. Daheim fertigten diese seine Eltern an. Er besuche aktuell die 9. Klasse und werde nach der 10. Klasse die Realschule erfolgreich abschließen. Er wolle so selbstständig wie möglich für das Berufsleben und die weiterführende Schule sein. Durch die Spracherkennungssoftware werde er unabhängiger und selbstständiger. Ausweislich der Ausführungen seiner Ärztin sei die Spracherkennungssoftware auch medizinisch notwendig und somit kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.09.2023 als unbegründet zurück. Der MD käme bei seiner Begutachtung zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Spracherkennungssoftware nebst Headset um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handle, da sie nicht vorwiegend für Kranke und Behinderte konzipiert seien und auch von Gesunden genutzt würden. Ein Gegenstand, mag er auch einem kranken bzw. behinderten Men...