Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente eines Behinderten bei Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte

 

Leitsatz (amtlich)

Die in einer Werkstatt für Behinderte verrichtete Tätigkeit hat keinen Einfluss auf die Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit (Abweichung von BSG vom 24.4.1996 - 5 RJ 34/95 und 5 RJ 56/95 = BSGE 78, 163).

 

Orientierungssatz

Aus der Aufnahme eines Behinderten in eine Werkstatt für Behinderte kann nicht automatisch auf dessen Erwerbsunfähigkeit geschlossen werden.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren hat.

Die am 1973 geborene Klägerin ist behindert mit einem Grad der Behinderung von 80. Sie kam im sechsten Monat der Schwangerschaft als Frühgeburt zur Welt. Ab 1980 besuchte die Klägerin für ein Jahr die Grundschule in L., ehemals Bezirk C. in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Von 1981 bis 1988 besuchte sie die dortige Hilfsschule. Von 1988 bis 1990 war sie nach Angaben ihrer Mutter auf Probe und ohne schriftlichen Arbeitsvertrag vier Stunden täglich in einer Mühle beschäftigt. Nachdem die Klägerin am April 1990 aus der damaligen DDR in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt war, besuchte sie vom September 1990 bis zum März 1992 die W.-Schule, Sonderschule für Geistigbehinderte in D.. Anschließend verzog die Klägerin nach M. und besuchte dort von April bis Juni 1992 die A.-Schule. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine Schule für Menschen mit geistiger Behinderung.

Ab dem 1. September 1992 besuchte die Klägerin die Werkstatt für Behinderte (WfB) in M.. Dort war sie zunächst im Eingangsbereich sowie im Arbeitstrainingsbereich und anschließend im Arbeitsbereich tätig. Im Arbeitstrainingsbereich hat sie alle in dieser Werkstatt angebotenen Arbeiten der Produktionsgruppen kennen gelernt und außerdem Bastelarbeiten verrichtet. Im Arbeitsbereich der Werkstatt war sie ab 1995 mit Verpackungsarbeiten beschäftigt. Sie hatte mittels eines Zählbretts Gardinenhaken abzuzählen und Blisterpackungen auf Schienen zu legen. Ab dem 7. November 1994 war sie in der WfB nur noch halbtags tätig, weil sie ausweislich eines Attestes ihres Hausarztes Dr. F. wegen eines Wirbelsäulenleidens nur noch halbschichtig in der Werkstatt einsetzbar war. Im Zusammenhang mit der Reduzierung der täglichen Arbeitszeit kam es zu Konflikten zwischen der Klägerin bzw. ihrer Mutter und gesetzlichen Betreuerin, Frau , und der WfB in M., die schließlich zur Beendigung der Tätigkeit der Klägerin in der Werkstatt zum 28. Oktober 1998 führten. Seitdem besucht die Klägerin keine Einrichtung für Behinderte und sie ist auch nicht erwerbstätig.

Einen ersten Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. November 1994 und Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 1995 ab. Auch einen Antrag der Klägerin auf Rücknahme der ablehnenden Bescheide gemäß § 44 SGB X lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. November 1995 und Widerspruchsbescheid vom 3. April 1996 ab. Die dagegen erhobene Klage nahm die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Itzehoe am 4. November 1996 zurück.

Mit Schreiben vom 15. Januar 1997, eingegangen bei der Beklagten am 20. Januar 1997 bat die Klägerin die Beklagte um Zusendung eines Antragsformulars zwecks Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente. Nachdem sie ausweislich einer Niederschrift der Beklagen vom 27. Februar 1997 erklärt hatte, damit keinen Rentenantrag gestellt zu haben, beantragte sie am 6. März 1997 bei der Beklagten eine Überprüfung des Ablehnungsbescheides von November 1996 gemäß § 44 SGB X und bezog sich zur Begründung im wesentlichen auf eine geänderte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit von Beschäftigten in WfB (Urteile vom 24. April 1996, Az.: 5 RJ 56/95 und 5 RJ 34/95). Daraufhin klärte die Beklagte zunächst das Versicherungskonto der Klägerin und berücksichtigte unter anderem wegen des Aufenthalts der Klägerin im Beitrittsgebiet die Zeit von der Vollendung des 16. Lebensjahres im März 1989 bis zur Übersiedlung in das alte Bundesgebiet im April 1990 als Pflichtbeitragszeit wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 248 Abs. 2 SGB VI. Die Klägerin betreffende medizinische Unterlagen lagen der Beklagten aufgrund der vorangegangenen Rentenverfahren vor.

Mit Bescheid vom 31. Juli 1997 und Widerspruchsbescheid vom 11. November 1997 lehnte die Beklagte die beantragte Rücknahme des Bescheides vom 3. November 1994 ab und führte zur Begründung im wesentlichen aus: Weil die Klägerin von Geburt an erwerbsunfähig gewesen sei, habe sie Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erst nach Erfüllung der Wartezeit von 20 Jahren. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides habe sie lediglich 66 Kalendermonate zurückgelegt, die auf die Wartezeit anzurechnen seien. Der die Rente ablehnende Bescheid vom 3. November 1994 sei nicht zu beanstanden. Der von der Klägerin in Bezug genomm...

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