Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer besonderer Bedarf. Mund-Nasen-Bedeckungen. normative Maßstäbe für die Bedarfsbemessung. Schätzung durch das Gericht. Bedarfsdeckung durch Einmalzahlung nach § 70 SGB 2 im Mai 2021. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Nach ihrer Verkündung durch den Bundespräsidenten wäre die mit dem sog "Sozialschutz-Paket III" vom 24.2.2021 für Mai 2021 beschlossene Einmalzahlung an Grundsicherungsempfänger:innen evident verfassungswidrig, weil das Existenzminimum nicht erst mit mehrmonatiger Verzögerung gedeckt werden darf und der Gesetzgeber zudem seinen Gesetzesbegründungspflichten nicht ansatzweise nachgekommen ist.
2. Dem sog "Corona-Kabinett" stehen nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes (juris: GG) keinerlei Gesetzgebungskompetenzen zu.
3. Auch in ihrer jeweils maßgeblichen Fassung stellen allein die Bestimmungen der Corona-Verordnung (juris: CoronaVV BW) schon deshalb keinen zureichenden Maßstab für die Prüfung des Mehrbedarfs an Mund-Nasen-Bedeckungen dar, weil die Landesregierung des Bundeslandes Baden-Württemberg als Normgeber nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes weder über die Verbandskompetenz noch über die Organkompetenz verfügt, Grundsicherungsleistungsansprüche nach dem SGB II eigenmächtig auszugestalten, und die Corona-Verordnung mit Sicherheit nicht den vom Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klargestellten Anforderungen an Rechtsgrundlagen im Bereich existenzsichernder Leistungen genügt.
4. Der normative Gesamtmaßstab für die Prüfung des Mehrbedarfs an Mund-Nasen-Bedeckungen ergibt sich aus einer integrativen Betrachtung des nach dem Grundgesetz garantierten Existenzminimums an sozialer Teilhabe, der nach dem Strafgesetzbuch (juris: StGB) gebotenen Abwendung von Gesundheitsschädigungen, des zur Gefahrenabwehr primär nach dem Infektionsschutzgesetz (juris: IfSG) und sekundär nach der Corona-Verordnung erforderlichen Tragens von Mund-Nasen-Bedeckungen in hierfür geeigneter Qualität und Quantität sowie den beiden grundsicherungsrechtlichen Prinzipien des "Forderns" zumutbarer Eigenbemühungen und des „Förderns“ individuell wie strukturell bedingt dauerhaft hilfebedürftiger Mitmenschen in prekären Lebensverhältnissen mit entsprechend herabgesetzter Anpassungsfähigkeit.
5. Es ist insoweit einerseits Aufgabe der SGB II-Leistungsträger in Zeiten einer Pandemie ein Mindestmaß an Kontakten zu ermöglichen und andererseits Aufgabe jedes:r Grundsicherungsempfängers:in, seine:ihre Kontakte zu anderen, die nicht dem eigenen Hausstand angehören, auf das bloße Existenzminimum zu reduzieren.
6. Eine verfassungs- und bundesgesetzeskonforme Gewährleistung sozialer Teilhabe erfordert es mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zumindest bis 30.4.2021 weiterhin, Arbeitsuchenden unter den Bedingungen der Corona-Pandemie durchschnittlich wöchentlich 20 neue Mund-Nasen-Schutz-Masken entsprechend den Anforderungen der Standards FFP2 (DIN EN 149:2001), KN95, N95 oder eines vergleichbaren Standards ohne Ausatemventil zur Verfügung zu stellen (Fortsetzung von SG Karlsruhe vom 11.2.2021 - S 12 AS 213/21 ER).
7. Nachjustierungsbedarf sieht die 12. Kammer des SG Karlsruhe selbst hingegen in Bezug auf die (Geld- statt Sach-) Leistungsform für den Zeitraum zwischen Antragseingang bei Gericht und Eilbeschluss. Auch erscheint es nach nochmaliger Prüfung unrichtig, in Bezug auf in Mai bzw Juni 2021 prognostisch sinkende Infektionszahlen den Mehrbedarfsanspruch quasi über Nacht zum Sommeranfang wegfallen zu lassen, anstatt ihn sukzessive zahlenmäßig ab Mai zu reduzieren. Schließlich bleibt abzuwarten, ob der Mehrbedarf an MNBen möglicherweise dadurch abnimmt, dass aufgrund eines noch anzustrengenden kollektiven Lern- und Motivationsprozesses im Zusammenhang mit den (vielleicht nur übergangsweise zu) hohen Sorgfaltsanforderungen an die private Wiederverwendung von FFP2-Masken binnen der nächsten Monate doch noch deren Wiederverwendung zur Regel werden könnte.
Tenor
1. Bezüglich des Zeitraums 25.01.2021 bis 28.02.2021 wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
2. Bezüglich des Zeitraums 01.03.2021 bis 30.04.2021 wird der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller als Zuschuss zu dem durch Bescheid vom 06.04.2020 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 21.11.2020 bewilligten Arbeitslosengeldes 2 vorläufig
a) 26,- € für den Zeitraum 01.03.2021 bis 10.03.2021 nachzuzahlen und
b) für den Zeitraum 11.03.2021 bis 30.04.2021 nach Wahl des Antragsgegners
1.1 entweder als Sachleistung wöchentlich 20 Atemschutzmasken ohne Ausatemventil zur Verfügung zu stellen, welche den Anforderungen der Standards FFP2 (DIN EN 149:2001), KN95, N95 oder eines vergleichbaren Standards entsprechen
2.2 oder
aa) 60,- € für den Zeitraum 11.03.2021 bis 31.03.2021
bb) 86,- € für den Zeitraum 01.04.2021 bis 30.04....