Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Überprüfungsantrag. Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. rückwirkende Gewährung eines Mehrbedarfs für Personen mit dem Merkzeichen G. Gegenwärtigkeitsprinzip. Unkenntnis des Sozialhilfeträgers von der Feststellung des Merkzeichens. kein Nachweis anderweitiger Bedarfsdeckung erforderlich. fehlende gesonderte Antragstellung. Meistbegünstigungsgrundsatz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unter Beachtung des Meistbegünstigungsprinzips kann ein Antrag auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB 12 so ausgelegt werden, dass er alle in Betracht kommenden Leistungen, auch Mehrbedarfe nach § 30 SGB 12, umfasst.

2. Hatte der Grundsicherungsträger im Zeitpunkt des Erlasses eines Verwaltungsakts lediglich keine Kenntnis vom Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit dem Nachteilsausgleich "G" auf Seiten des Hilfeempfängers, ist der Mehrbedarf nach § 30 Abs 1 SGB 12 im Rahmen eines Rücknahmeverfahrens nach § 44 SGB 10 auch ohne Nachweis einer konkreten anderweitigen Bedarfsdeckung nachzugewähren.

 

Tenor

Der Bescheid vom 06. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 02. August 2013 wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Rücknahme der Bescheide vom 12. Juni 2012 und vom 09. Juli 2012 für die Zeit vom 01. Juli 2012 bis zum 31. August 2012 einen Mehrbedarf in Höhe monatlich 63,58 € wegen erheblicher Gehbehinderung aus Mitteln der Grundsicherung (SGB XII) zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte erstattet dem Kläger ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Rücknahmeverfahrens um die Gewährung eines Mehrbedarfs nach den Bestimmungen des Vierten Kapitels des Sozialgesetzbuchs - Sozialhilfe - (SGB XII) für eine erhebliche Gehbehinderung (Merkzeichen “G„) für die Zeitspanne vom 27.02.2012 bis zum 31.08.2012 zzgl. 4 % Zinsen seit dem 31.08.2012.

Der 1942 geborene Kläger ist als schwerbehinderter Mensch anerkannt (Schwerbehindertenausweis des früheren Versorgungsamts Karlsruhe vom 23.01.2002). Er bezieht von der Beklagten seit dem 01.10.2010 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII (Bescheid vom 05.10.2010). Für den Zeitraum von Januar bis Juni 2012 hatte die Beklagte diese Leistungen zuletzt auf monatlich 561,10 €, für den Monat Juli 2012 auf 561,29 € sowie für die Monate August und September 2012 auf monatlich 550,72 € festgesetzt (Bescheide vom 02.12.2011, 12.06.2012 und vom 09.07.2012). Diese Bescheide wurden jeweils bindend. Bei der Berechnung der Leistungshöhe berücksichtigte die Beklagte als monatlichen Bedarf des Klägers den Regelsatz nach der Regelbedarfsstufe 1 (374,00 €), Aufwendungen für seine Kranken- und Pflegeversicherung (monatlich 162,51 € bis einschließlich Juni 2012, 162,70 € für Juli bis September 2012) sowie Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 363,93 €.

Am 12.09.2012 legte der Kläger der Beklagten den Schwerbehindertenausweis des Landratsamts Karlsruhe vom 27.02.2012 vor, demzufolge sein Grad der Behinderung seit dem 17.11.2011 mit 100 festgesetzt und ihm seither außerdem der Nachteilsausgleich “G„ zuerkannt ist. Durch Bescheid vom 12.09.2012 hob die Beklagte den Bescheid vom 09.07.2012 für die Zeit ab dem 01.09.2012 auf und gewährte dem Kläger für den Monat September 2012 Grundsicherungsleistungen unter Berücksichtigung auch eines Mehrbedarfs für erheblich gehbehinderte Menschen im Umfang von 17 v.H. der Regelbedarfsstufe 1. In gleicher Weise setzte sie die Grundsicherungsleistungen auch für den Zeitraum vom 01.10.2012 bis zum 30.09.2013 fest (weiterer Bescheid vom 12.09.2012).

Am 30.01.2013 stellte der Kläger bei der Beklagten den Antrag, ihm unter Rücknahme der Bescheide vom 02.12.2011, 12.06.2012 und vom 09.07.2012 höhere Grundsicherungsleistungen für die Zeit von November 2011 bis zum 31.08.2012, ebenfalls unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für erheblich Gehbehinderte, zu erbringen. Den Leistungszeitraum reduzierte er mit Schriftsatz vom 15.03.2013 auf die vorliegend streitige Zeitspanne. Die Beklagte hielt an der Bestandskraft der beanstandeten Bescheide fest und lehnte deren Rücknahme mit der Begründung ab, der Bedarfswegfall für die Vergangenheit stehe der rückwirkenden Leistungsgewährung entgegen (Hinweis auf BSG vom 29.09.2009 - B 8 SO 16/08 R -). Bei einer rückwirkenden Leistungsgewährung seit die Zweckbestimmung des Mehrbedarfs für schwerbehinderte Menschen mit dem Merkzeichen “G„ nicht mehr einzuhalten. Denn der Kläger könne diesen Bedarf nicht nachleben. Im Übrigen habe er trotz entsprechender Aufforderung nicht nachgewiesen, wie er seinen Mehrbedarf in der Zeit vom 27.02.2012 bis zum 31.08.2012 finanziert und wofür er diesen ausgegeben habe (Bescheid vom 06.05.2013).

Zur Begründung seines dagegen erhobenen Widerspruchs trug der Kläger im Wesentlichen vor, bei dem Mehrbedarf für erheblich gehbehinderte Menschen handele es sich um eine pauschal...

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