Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Folgenabwägung. Gewährung vorläufiger Leistungen. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität
Leitsatz (amtlich)
Im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R - sind in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, bei denen im Streit ist, ob der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 für Unionsbürger beim Aufenthalt zur Arbeitssuche europarechtskonform ist, im Rahmen der Folgeabwägung Leistungen nach dem SGB 2 vorläufig zu gewähren.
Orientierungssatz
Az beim LSG: L 6 AS 130/14 B ER
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 16.01.2014 Leistungen nach dem SGB II einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung in gesetzlicher Höhe bis zum Ablauf des Bewilligungsabschnitts am 31.05.2014 oder bis zum bestandskräftigen Entzug ihrer Freizügigkeit zu gewähren.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin D. ab 16.01.2014 bewilligt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes darüber, ob der Antragstellerin SGB II-Leistungen zu gewähren sind.
Die 1988 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Sie hält sich ausweislich eines Vermerks des Antragsgegners vom 12.12.2013 (Bl. 2 Verwaltungsakte) seit dem Jahr 2012 in Deutschland und seit Juli 2013 in A-Stadt auf und beantragte am 02.12.2013 erstmalig Leistungen nach dem SGB II beim Antragsgegner. Ihren Lebensunterhalt habe sie durch das Sammeln von Pfandflaschen, durch Blutspenden, Betteln, durch Unterstützungsleistungen aus dem bulgarischen Bekanntenkreis sowie durch den Verzehr von abgelaufenen Lebensmitteln bestritten. Die Antragstellerin ist Mutter von zwei Töchtern, die in Bulgarien bei Verwandten leben. In der Zeit vom 25.07.2013 bis 01.11.2013 habe sie in der B-Straße in A-Stadt gelebt. Inzwischen wohne sie in der C-Straße in A-Stadt. Ein Mietvertrag existiere laut eigenen Angaben nicht. Nachweise über die monatlichen Unterkunftskosten von 308,00 € habe sie nicht. Sie habe die Wohnung als Untermieterin von anderen Mietern angemietet (Bl. 2 Verwaltungsakte).
Bereits am 05.12.2013 stellte die Antragstellerin einen ersten einstweiligen Rechtsschutzantrag beim Sozialgericht Kassel unter dem Aktenzeichen S 4 AS 245/13 ER, wobei zwischen den Beteiligten streitig war, ob ein Mitarbeiter des Antragsgegners die Annahme des Leistungsantrags im Hinblick auf die Herkunft der Antragstellerin aus Bulgarien verweigert hatte (vgl. Bl. 20, 25 Gerichtsakte). Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II sei wegen fehlender Europarechtskonformität nicht anwendbar (Bl. 3 Gerichtsakte).
Mit Bescheid vom 13.12.2013 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag ab. Die Antragstellerin halte sich allein zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland auf, ein Daueraufenthaltsrecht sei nicht erworben worden. Gem. § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II bestehe daher kein Leistungsanspruch nach dem SGB II (Bl. 29 Verwaltungsakte).
Mit Schriftsatz vom 23.12.2013 legte die Bevollmächtigte der Antragstellerin gegen den Bescheid Widerspruch ein (Bl. 45 Verwaltungsakte).
Mit Beschluss vom 23.12.2013 verpflichtete die 4. Kammer des Sozialgerichts Kassel den Antragsgegner für die Zeit vom 01.12.2013 bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 13.12.2013 vorläufig zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne die Gewährung von Kosten der Unterkunft. § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II greife nicht ein. Es sei nicht ersichtlich, dass sich die Antragstellerin arbeitssuchend gemeldet habe und eine Arbeitstätigkeit aktiv suche. Der Wortlaut der Vorschrift sei daher nicht einschlägig. Aber selbst wenn § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II einschlägig sein sollte, sei eine vorläufige Leistungsgewährung im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts (BSG) an den EuGH vom 12.12.2013 geboten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss der 4. Kammer des Sozialgerichts Kassel Bezug genommen (Bl. 54 ff. Gerichtsakte ).
Mit Bescheid vom 27.12.2013 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin für die Zeit vom 01.12.2013 bis 31.05.2014 vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe der Regelleistung. Dieser Bescheid ergehe nur vorläufig in Umsetzung des Beschlusses des Sozialgerichts Kassel vom 23.12.2013 bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 13.12.2013, längstens bis zum 31.05.2014 (Bl. 58 Verwaltungsakte).
Am 27.12.2013 schlossen die Antragstellerin und der Antragsgegner eine Eingliederungsvereinbarung mit dem Ziel der Verringerung der Hilfebedürftigkeit. Die Eingliederungsvereinbarung hat eine Gültigkeit bis 26.06.2014, soweit zwischenzeitlich nichts anderes vereinbart werde. Der Antragsgegner bemühe sich...