Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aufhebung der Leistungsbewilligung wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse. Wegfall des rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalts nach Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts eines Unionsbürgers durch die Ausländerbehörde. Suspensiveffekt der verwaltungsgerichtlichen Klage. Anspruch auf Duldung und Asylbewerberleistung
Leitsatz (amtlich)
1. Hat die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs 4 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) eines Unionsbürgers festgestellt, entfällt der rechtmäßige bzw gewöhnliche Aufenthalt im Sinne des § 7 Abs1 S 1 Nr 4 SGB II iVm § 30 SGB I und damit der Leistungsanspruch nach dem SGB II. Dies gilt auch dann, wenn gegen die Verlustfeststellung Widerspruch bzw verwaltungsgerichtliche Klage erhoben wurde, da die aufschiebende Wirkung nur die sofortige Ausreisepflicht nach § 7 Abs 1 S 1 FreizügG/EU suspendiert, nicht jedoch die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts wiederaufleben lässt.
2. Mit Wirksamwerden der Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts gem § 5 Abs 4 FreizügG/EU während des laufenden SGB II-Bezugs tritt eine Änderung im Sinne des § 48 Abs 1 S 1 SGB X ein.
3. Ist Widerspruch oder Klage gegen die Verlustfeststellung nach § 5 Abs 4 FreizügG/EU erhoben worden und entfaltet diese einen Suspensiveffekt nach § 80 Abs 1 S 1 VwGO, so hat der Unionsbürger einen Anspruch auf Duldung für die Dauer des Verfahrens und damit Anspruch auf Asylbewerberleistungen gemäß § 1 Abs 1 Nr 5 AsylbLG iVm § 3 AsylbLG (vgl LSG Essen vom 16.03.2020 - L 19 AS 2035/19 B ER - zitiert nach juris).
Tenor
1. Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, den Antragstellern dem Grunde nach Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vom 11. Mai 2021 bis zum 31. Juli 2021 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Im Übrigen wird der Eilantrag abgelehnt.
2. Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Aufhebungsentscheidung des Antragsgegners ab dem 1. Mai 2021 nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), die der Antragsgegner auf eine Verlustfeststellung der Beigeladenen stützt.
Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1) reiste im Februar 2018 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein, die Antragsteller im Mai 2019. Die Antragstellerin zu 1.) ist die alleinerziehende Mutter der im September 2014 und März 2016 geborenen Antragsteller zu 2.) und 3.). Für ihre Wohnung fallen monatliche Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 600,- € an. Für die Antragsteller zu 2.) und 3.) wird derzeit Unterhaltsvorschuss in monatlicher Höhe von 232,- € bzw. 174,- € sowie von der Familienkasse Kindergeld in monatlicher Höhe von jeweils 219,00 € gewährt.
Der Antragsgegner bewilligte den Antragstellern Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. März 2021 bis zum 30. November 2021 in Höhe von monatlich 954,56 € (Bewilligungsbescheid vom 3. November 2020 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 21. November 2020, 27. November 2020 und 9. Februar 2021).
Nachdem die Beigeladene durch Bescheid vom 4. Februar 2021 den Verlust des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts der Antragsteller festgestellt hatte, hob der Antragsgegner mit Bescheid vom 15. April 2021 unter Heranziehung des § 48 Abs.1 SGB X seine vorangegangenen Bewilligungsentscheidungen für die Zeit ab dem 1. Mai 2021 mit der Begründung auf, dass den Antragstellern durch die Beigeladene die Freizügigkeit entzogen worden sei. Mit dem Entzug der Freizügigkeit entfalle der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 7. Mai 2021 zurück.
Gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 4. Februar 2021 (Zugang per Postzustellungsurkunde bei den Antragstellern am 21. April 2021) legten die Antragsteller am 30. April 2021 Widerspruch ein, den die Beigeladene mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2021 als unbegründet zurückwies.
Die Antragsteller haben zeitgleich am 11. Mai 2021 Klage zum SG Kiel zum Az. S 36 AS 10059/21 erhoben und Eilrechtsschutz bei dem SG Kiel nachgesucht. Sie tragen zur Begründung im Wesentlichen vor: Für den Monat Mai 2021 hätten die Antragsteller keine Leistungen ausgezahlt erhalten. Es habe weder der Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II noch habe die Beigeladene Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) oder dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erbracht. Der Aufhebungsbescheid vom 15. April 2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 7. Mai 2021 sei rechtswidrig und verletze die Antragsteller in ihren Rechten. Es sei insbesondere nicht richtig, dass die Kläger nach Wirksamwerden des Verlustfeststellungsbescheids der Beigeladenen die durch § 7 Abs.1 S.1 Nr.4 SGB II für einen Leistungsanspruch n...