Entscheidungsstichwort (Thema)
Beanstandung der Richtlinien nach § 94 Abs 1 S 2 SGB 5 durch Bundesministerium für Gesundheit gegenüber Gemeinsamen Bundesausschuss im Rahmen der Rechtsaufsicht. Prägung des staatlichen Aufsichtsrechts. enterale Ernährung. Leistungsumfang. gesetzliche Krankenversicherung. Entscheidungsträger. Normsetzungsermächtigung
Orientierungssatz
1. Über den Gemeinsamen Bundesausschuss hat das Bundesministerium für Gesundheit (früher: Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung) hinsichtlich der Beanstandungspflicht nach § 94 Abs 1 S 2 SGB 5 nur eine Rechtsaufsicht (Änderung von SG Köln vom 27.3.2002 - S 19 KA 23/01 = GesR 2002, 30 und SG Köln vom 19.8.2002 - S 19 KA 25/02 ER)
2. Der Grundsatz der maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht prägt das staatliche Aufsichtsrecht.
3. Zur Frage, inwieweit zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung Mittel zur enteralen Ernährung gehören (müssen).
4. Auch wenn Entscheidungsträger nicht demokratisch legitimiert sind, reicht es aus, dass in einer den Anforderungen des Art 80 Abs 1 S 2 GG entsprechenden Weise Inhalt, Zweck und Ausmaß der Normsetzungsermächtigung gesetzlich festgelegt ist (vgl BSG vom 20.3.1996 - 6 RKA 62/94 = BSGE 78, 70 = SozR 3-2500 92 Nr 6.
Tenor
Der Beschluss der Beklagten vom 27.04.2005 wird aufgehoben.
Die Gerichtskosten trägt zu 8/10 die Beklagte, zu 2/10 der Kläger.
Kosten unter den Beteiligten sind nicht zu erstatten.
Der Streitwert wird auf 100.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um eine aufsichtsrechtliche Beanstandung der Richtlinie zur enteralen Ernährung.
Der Kläger ist eine Einrichtung der gemeinsamen Selbstverwaltung. Ihm ist vor allem übertragen, Richtlinien zur Gewährleistung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten zu beschließen (§ 92 Abs. 1 Satz 1 Buch V des Sozialgesetzbuches - SGB V - Gesetzliche Krankenversicherung). Welche Leistungen im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von den Krankenkassen zu erbringen sind, hat der Gesetzgeber im Wesentlichen entschieden. Lebensmittel fallen grundsätzlich nicht darunter. Deshalb sind sie in der richtlinienkonkretisierenden Vorschrift des § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 12 SGB V nicht erwähnt. Allerdings ist dem Kläger im Dezember 1998 durch das Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SolG) in § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V aufgegeben, in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V, der unter anderem die Verordnung von Arzneimitteln betrifft, festzulegen, in welchen medizinisch notwendigen Fällen Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementardiäten und Sondennahrung ausnahmsweise in die Versorgung mit Arzneimitteln einbezogen werden.
Schon zuvor durften nach Ziffer 17.1i der Arzneimittelrichtlinien (AMR) in ihrer Fassung vom 03.08.1998 unter Abschnitt F "Verordnungseinschränkungen aufgrund der §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12, 70 SGB V und zugelassene Ausnahmen" ausnahmsweise verordnet werden Aminosäuremischungen und Eiweißhydrolysate bei angeborenen Enzymmangelkrankheiten, Elementardiäten (Gemische von Nahrungsgrundbausteinen, Vitaminen und Spurenelementen), und zwar bei jenen unter der genannten Ziffer aufgeführten Erkrankungen. Durch das Einfügen des Satzes 2 in § 31 Abs. 1 SGB V sollte diese Ausnahmeregelung auf eine sichere Rechtsgrundlage gestellt werden (vgl. BT-Drucks. 14/157 S. 33). Den damit verbundenen gesetzlichen Auftrag hat der Rechtsvorgänger des Klägers, der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, erstmals mit Beschluss vom 26.02.2002 umgesetzt.
Durch diesen Beschluss sollte nach dem Kapitel D der AMR a. F. ein neues Kapitel E eingefügt werden "Verordnungsfähigkeit von Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementardiäten und Sondennahrung" nebst einer Anlage 7 zu diesem Kapitel. Diese betraf die Wirtschaftlichkeit der ausnahmsweisen Verordnung; ihr war eine Tabelle mit Indikationen, Verordnungsvoraussetzungen, verordnungsfähigen Produkten sowie Applikationswegen und ergänzenden Hinweisen angefügt.
Diesen Beschluss hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) am 17.05.2002 beanstandet: Es sei nicht erkennbar, ob der Beschluss auf einer umfassenden Würdigung des medizinischen Wissens beruhe; es sei eine systematische HTA-Bewertung zu treffen. Mit dem Begriff HTA (Helth Technology Assessment) ist ein Prozess bezeichnet, mit dem medizinische Verfahren und Technologien systematisch bewertet werden, soweit sie einen Bezug zur gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung haben. Im Jahr 2000 wurde die Deutsche Agentur für Helth Technology Assessment (DHTA) vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information im Geschäftsbereich des (damaligen) Bundesministeriums für Gesundheit gegründet. Die DHTA betreibt ein solches Informationssystem und hält ein Programm zur Erstellung von HTA-Berichten vor. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen erstellte auf diese Beanstandung hin auflagegemäß eine solche...