Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss von Ausländern bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG, wie es vom BVerfG in den Urteilen vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) und vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2) konstituiert worden ist (Anschluss an SG Mainz vom 2.9.2015 - S 3 AS 599/15 ER).

2. Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums kann nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden (entgegen LSG Halle vom 4.2.2015 - L 2 AS 14/15 B ER - Rdnr 40 = NZS 2015, 351 und vom 27.5.2015 - L 2 AS 256/15 B ER - Rdnr 31; LSG Essen 20.8.2015 - L 12 AS 1180/15 B ER - Rdnr 27; LSG Stuttgart vom 29.6.2015 - L 1 AS 2238/15 ER-B ua - Rdnr 39 = NZS 2015, 759; LSG Berlin-Potsdam vom 28.9.2015 - L 20 AS 2161/15 B ER - Rdnr 22 ff; LSG München 1.10.2015 - L 7 AS 627/15 B ER - Rdnr 33; LSG München vom 13.10.2015 - L 16 AS 612/15 B ER - Rdnr 36 ff; LSG Hamburg vom 15.10.2015 - L 4 AS 403/15 B ER - Rdnr 9 ff; LSG Mainz vom 2.11.2015 - L 6 AS 503/15 B ER).

3. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 verstößt darüber hinaus gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 VO (EG) 883/2004 (juris: EGV 883/2004). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen Systemen der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG; juris: EGRL 38/2004) gerechtfertigt werden. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist bei Unionsbürgern bereits aus diesem Grund nicht anzuwenden (entgegen EuGH vom 15.9.2015 - C-67/14 - Rdnr 63 = NZS 2015, 784).

4. Ein Wegfall des Aufenthaltsrechts aus § 2 Abs 2 Nr 1a FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) hat zur Folge, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 nicht greift (Anschluss an LSG Darmstadt vom 7.4.2015 - L 6 AS 62/15 B ER - Rdnr 49 ff; entgegen LSG Darmstadt vom 11.12.2014 - L 7 AS 528/14 B ER).

 

Tenor

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von 937,10 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.10.2015 bis zum 31.12.2015 und in Höhe von 941,10 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 31.03.2016 zu zahlen.

2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von Arbeitslosengeld II im Wege der einstweiligen Anordnung.

Der 1961 geborene Antragsteller ist spanischer Staatsangehöriger. Er lebt mit seiner Ehefrau (geboren1985) und zwei gemeinsamen Kindern zusammen in einer Genossenschaftswohnung in Mainz und war im Jahr 2014 aus Spanien nach Deutschland eingereist. Für die Wohnung ist eine Nutzungsgebühr in Höhe von monatlich 577,10 Euro monatlich zu entrichten, einschließlich 100 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 60 Euro Wärme- und Warmwasserkostenvorauszahlung. Vertragspartner der Baugenossenschaft ist ausschließlich der Antragsteller selbst. Der Antragsteller verfügt über eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 FreizügigkeitsG/EU. Vom 01.08.2014 bis zur arbeitgeberseitigen Kündigung zum 31.03.2015 übte der Antragsteller eine Erwerbstätigkeit in einem Arbeitsverhältnis im Umfang von 40 Stunden wöchentlich als Spüler aus und verdiente hierbei zuletzt 1.654 Euro brutto monatlich.

Der Antragsteller stellte für sich und seine Familie am 30.03.2015 erstmals einen Antrag auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beim Antragsgegner.

Mit Bescheid vom 26.05.2015 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller und seiner Familie Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis zum 30.09.2015. Für die Monate Mai bis September 2015 wurde dem Antragsteller hierbei ein monatlicher Betrag von 504,28 Euro bewilligt. Der Antragsgegner legte Gesamtkosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 577,12 Euro, bei dem Antragsteller einen “Kopfteil„ von 144,28 Euro zu Grunde. Des Weiteren wurde bei dem Antragsteller ein Regelbedarf in Höhe von 360 Euro berücksichtigt. Das Einkommen aus Kindergeld wurde bei den Kindern des Antragstellers bedarfsmindernd berücksichtigt. Für die ganze Familie belief sich die Leistungshöhe ab Mai 2015 auf 1.430,12 Euro monatlich.

Mit einem Bescheid vom 21.09.2015 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen für den Zeitraum vom 01.08.2015 bis zum 30.09.2015. Hierbei wurde die vorangegangene Bewilligungsentscheidung für den Monat August 2015 wegen Ortsabwesenheit teilweise aufgehoben, nachdem zuvor bereits eine vorläufige Zahlungseinstellung erfolgt war. Für den Monat September 2015 ...

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