Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Unterkunft und Heizung. Angemessenheitsbegriff bzw -prüfung. Abweichung von der Rechtsprechung des BSG zum schlüssigen Konzept. Unterkunftsbedarf als Bestandteil des menschenwürdigen Existenzminimums. Vorgaben und Anforderungen des BVerfG. Zuständigkeit des Gesetzgebers. verfassungskonforme Auslegung des Angemessenheitsbegriffs

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs des § 35 Abs 2 S 1 SGB 12 anhand der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum "schlüssigen Konzept" ist nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG vereinbar, wie es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) näher bestimmt worden ist (vgl SG Mainz vom 8.6.2012 - S 17 AS 1452/09 = ZFSH/SGB 2012, 478).

2. Für eine Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums durch am einfachen Wohnstandard orientierte Mietobergrenze fehlt es auch im SGB 12 an einer den prozeduralen Anforderungen des BVerfG genügenden und hinreichend bestimmten parlamentsgesetzlichen Grundlage.

3. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff deshalb nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen iS des § 35 Abs 2 S 1 SGB 12 lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.

 

Orientierungssatz

Die Regelung des § 35 SGB 12 ist bereits aus Gründen der Gleichbehandlung insbesondere im Hinblick auf den Angemessenheitsbegriff in gleicher Weise zu konkretisieren, wie die Regelung des § 22 SGB 2, so dass die hierzu ergangene Rechtsprechung im allgemeinen übertragbar ist.

 

Tenor

1. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 15.12.2010 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 20.12.2010, 15.01.2011, 28.01.2011, 04.03.2011, 08.03.2011 und 12.04.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.09.2011 verurteilt, den Klägern Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kaltmiete in Höhe von 350 € monatlich zu gewähren.

2. Der Beklagte erstattet den Klägern die notwendigen außergerichtlichen Kosten.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Unterkunft.

Die 1948 geborene Klägerin und der 1938 geborene Kläger sind miteinander verheiratet und wohnen gemeinsam in einer Wohnung mit Wohnfläche von 51,61 m² in W -I . Hierfür hatten sie laut Mietvertrag vom 29.04.2010 eine Kaltmiete in Höhe von 410 € monatlich zu entrichten. Nach einer Anpassung des Mietvertrags haben die Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum noch eine Kaltmiete von 350 € monatlich zu entrichten. Sie beziehen nach ihrem Umzug nach W zum 01.05.2010 seit dem 01.06.2010 laufende Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) vom Beklagten. Die Klägerin zu 1 bezieht eine unbefristete Rente wegen Erwerbsminderung, der Kläger zu 2 eine Altersrente.

Mit Bescheid vom 15.10.2010 bewilligte der Beklagten den Klägern Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe von zusammen 635,59 € monatlich für den Zeitraum vom 1.12.2010 bis zum 30.11.2011. Hierbei legte der Beklagte eine als angemessen angesehene Kaltmiete in Höhe von 279,60 € zu Grunde.

Mit Telefax vom 09.12.2010 legte die Klägerin zu 1 ein ärztliches Attest von Dr. N. vor. Hierin wird bescheinigt, dass die Klägerin zu 1 unter einer schweren chronischen Erkrankung mit Luftnot und eingeschränktem Gehbereich leide. Die Gesundheitsprobleme seien zuletzt weiterhin schwergradig gewesen und dauerten weiter an. Die Klägerin zu 1 sei auf ihre derzeit genutzte Wohnung angewiesen, da diese ebenerdig sei.

Mit Bescheid vom 15.12.2010 änderte der Beklagte die die Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis zum 30.11.2011 dahingehend ab, dass ab dem Monat Januar 2011 Leistungen in Höhe von insgesamt 672,13 € monatlich gewährt wurden.

Mit Bescheid vom 20.12.2010 änderte der Beklagte die Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 1.1.2011 bis zum 30.11.2011 dahingehend ab, dass ab dem Monat Januar 2011 eine Betrag von 671,03 € monatlich bewilligt wurde. Hintergrund war die Erhöhung des Zuschusses der Deutschen Rentenversicherung Hessen zur Krankenversicherung ab dem 1.1.2011.

Mit Posteingang vom 20.1.2011 legten die Kläger Widerspruch gegen die Leistungsbewilligung ein und nahmen Bezug auf einen Widerspruch vom 18.12.2010, der allerdings in den Verwaltungsvorgängen nicht enthalten ist.

Mit Bescheid vom 25.01.2011 änderte der Beklagte die Leistungsbewilligung dahingehend ab, dass für den Zeitraum vom 1.1.2011 bis zum 30.11.2011 ein Betrag von 671,56 € bewilligt wurde.

Mit Bescheid vom 28.01.2011 erhöhte der Beklagte die Leistungsbewilligung fü...

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