Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittel für seltene Leiden (orphan drugs). Leistungspflicht in dem von der Zulassung nach EGV 141/2000 umfassten Indikationsgebiet. keine Einschränkung durch Nutzenbewertungsverfahren nach § 35a SGB 5. Zusatznutzen nach § 35a Abs 1 S 11 SGB 5 unterstellt. Preisbestimmung nach § 130b Abs 1 SGB 5. Wirtschaftlichkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Ein nach der Verordnung (EG) Nr 141/2000 (juris: EGV 141/2000) zugelassenes Arzneimittel für seltene Leiden unterfällt der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in dem von der Zulassung umfassten Indikationsgebiet.
2. Das Verfahren der Nutzenbewertung nach § 35a SGB V dient explizit nicht zur Einschränkung der durch die Arzneimittelzulassung begründeten Leistungspflicht.
3. Die Zulassung eines Arzneimittels für seltene Leiden begründet nach § 35a Abs 1 S 11 SGB V bereits per se einen Zusatznutzen und führt damit automatisch zu dem Verfahren der Preisbestimmung nach § 130b Abs 1 SGB V.
4. Das Verfahren nach § 35a SGB V ist ein Mittel zur Bestimmung der Wirtschaftlichkeit der Verordnung eines Arzneimittels im Sinne von § 12 SGB V. Ein besonders hoher Preis für das begehrte Arzneimittel - insbesondere in der Einführungsphase - kann damit dem Antragsteller nicht entgegengehalten werden, sondern ist systemimmanent.
Tenor
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, den Antragsteller mit dem Arzneimittel Nusinersen (Spinraza®) ab sofort zu versorgen.
2. Diese Anordnung wird befristet bis zum 31. Dezember 2019.
3. Die Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Versorgung mit dem zugelassenen Arzneimittel Nusinersen (Handelsname: "Spinraza®").
Der Antragsteller, geboren 1983, ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert und leidet an einer spinalen Muskelatrophie (5q-SMA Typ III).
Er stellte am 8. Dezember 2017 bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Kostenübernahme für das Arzneimittel "Spinraza®". Nusinersen zur Behandlung der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie ist als Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens nach der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 zugelassen.
Dem Antrag des Antragstellers beigefügt war ein Befundbericht des UK..., Neurologische Klinik, Dr. C. vom 27. November 2017, die eine Therapie mit Spinraza® nach stationärer Aufnahme empfahl. Beigefügt war ein humangenetisches Gutachten vom 24. März 2017, welches den klinischen Verdacht einer spinalen Muskelatrophie bestätigte.
Mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 lehnte die Antragsgegnerin eine Kostenübernahme ab. Das Medikament Spinraza® sei noch nicht im Krankenhausentgeltsystem abgebildet. Somit fehle zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Rechtsrahmen für die Kostenerstattung des Arzneimittels im Rahmen einer stationären Behandlung. Allerdings sei im Jahr 2018 damit zu rechnen, dass eine Bewertung der Leistung erfolge und somit die Leistung zwischen Klinik und Krankenkasse grundsätzlich abgerechnet werden könne. Unabhängig von der ausstehenden Abrechnungsvereinbarung beruhe die Zulassung des Wirkstoffes Nusinersen auf klinischen Studien im Kindesalter. Bisher gebe es also keine Erfahrungen zur Wirksamkeit sowohl außerhalb dieser Bevölkerungsgruppe als auch über einen längeren Beobachtungszeitraum.
Seinen Widerspruch vom 30. Dezember 2017 begründete der Antragsteller dahingehend, dass seit der Zulassung des Präparats in der Europäischen Union (EU) am 1. Juni 2017 in Deutschland alle Patienten mit SMA mit Spinraza® behandelt werden könnten. Gegenwärtig seien dies in Deutschland ca. 250 Patienten, darunter auch ca. 30 Erwachsene. Nach geltendem Recht hätten in Deutschland alle gesetzlich Versicherten einen Anspruch darauf, dass die Krankenkassen die Behandlung mit Spinraza® finanzierten. Der GKV-Spitzenverband habe dazu ausgeführt: "Mit der Zulassung durch die EU-Kommission beginnt die Kostenübernahme der Krankenkassen im Rahmen des Sachleistungsprinzips, soweit der pharmazeutische Unternehmer das Arzneimittel in Deutschland verfügbar macht und es entsprechend der vom Hersteller beantragten Indikationen vom Arzt verordnet wird". Die Finanzierung des Medikamentes sowie des Behandlungsprozesses durch die Krankenkasse erfordere derzeit noch eine Einzelfallgenehmigung. Diese würde von zahlreichen anderen Kassen mittlerweile unproblematisch erteilt. Auch wenn sich eine besondere Schwierigkeit dadurch ergebe, dass in den durchgeführten klinischen Studien die erwachsenen SMA-Patienten nicht beteiligt gewesen seien, so hätten gleichwohl in Zusammenarbeit der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM) mit der Initiative SMA und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie Empfehlungen für die Therapie erarbeitet werden können.
Mit Schreiben vom 27. Februar 2018 informierte die Antragsgegnerin den Antragsteller dahingehend...