Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsarztrecht
Leitsatz (amtlich)
1. Mit der Prävalenzprüfung, bei der der Beklagte zur Ermittlung einer Praxisbesonderheit das Verhältnis der F-Diagnosen nach der PT-Richtlinie zu den abgerechneten GOP 35100 EBM bildet und dieses mit der Prüfgruppe vergleicht, sind Unschärfen verbunden, die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.
2. Eine Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe kann nur hergestellt werden, wenn sowohl die Ermittlung der F-Diagnosen als auch die Abrechnungshäufigkeit der GOP 35100 EBM patientenbezogen erfolgen.
3. Im Gegensatz zur GOP 35110 EBM, die pro Patient*in vielfach angesetzt werden darf, ist eine Unschärfe der Prävalenz-Betrachtung bei der GOP 35100 EBM nicht zu erwarten, da diese Diagnostikziffer in aller Regel nur zu Beginn des Krankheitsfalles angesetzt werden dürfte.
4. Die Zielsetzung der psychosomatischen Grundversorgung besteht nach den Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinie in einer seelischen Krankenbehandlung, die während der Behandlung von somatischen, funktionellen und psychischen Störungen von Krankheitswert durchgeführt werden kann. Insoweit können funktionelle Störungen von Krankheitswert Anlass für eine diagnostische Abklärung nach der GOP 35100 EBM sein, wenn mit dieser Störung eine seelische Belastung einhergeht.
Tenor
1. Der Beschluss des Beklagten vom 15. April 2021 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über Honorarprüfungen betreffend die Quartale II/2016 bis IV/2016 wegen eines „offensichtlichen Missverhältnisses" im Vergleich zur Fachgruppe (FG) bei der Gebührenordnungsposition (GOP) 35100 (Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM).
Die Klägerin, Fachärztin für Allgemeinmedizin, ist seit dem 1. April 2016 in einer Einzelpraxis in A-Stadt niedergelassen und nimmt an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Sie verfügt über die Genehmigung für die „Psychosomatische Grundversorgung“.
Das Prüfverfahren wurde durch die Prüfungsstelle (PS) von Amts wegen eingeleitet. Es wurden folgende Auffälligkeiten festgestellt:
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Qtl. |
GO- NR. |
Anz.-GO-NR. je 100-Fälle- Praxis |
Durch. je Fall-Praxis |
Anz.-GO-NR. je 100-Fälle ausf. Praxen |
Durch. je Fall ausf. Praxen-PG |
Abw. In % |
2016/2 |
35100 |
51 |
8,21 |
5 |
0,85 |
865,88 |
2016/3 |
35100 |
34 |
5,52 |
5 |
0,81 |
581,48 |
2016/4 |
35100 |
39 |
6,22 |
5 |
0,80 |
677,50 |
Mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 teilte die PS der Klägerin die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich ihrer Leistungserbringung bezogen auf die GOP 35100 EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten und kompensatorischer Einsparungen.
Die Klägerin legte keine Stellungnahme vor. Die PS nahm Prävalenzprüfungen für alle zu prüfenden Quartale vor. Dabei wurden entsprechend § 22 der Psychotherapie-RL des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) die Indikationen für die psychosomatische Grundversorgung mit den ICD-10 Verschlüsselungen pro Quartal geprüft. Die PS stellte fest, dass in diesem Bereich zwischen 34 und 35 verschiedene ICD-Verschlüsselungen angesetzt worden waren und das ermittelte Mehr gegenüber der FG.
Mit Bescheid vom 3. September 2018 erkannte die PS wegen der ermittelten Praxisbesonderheiten der Klägerin zudem zum Fallwert des Fachgruppendurchschnitts nicht nur +20% (Streubreite), sondern +100% zum Fachgruppendurchschnitt pauschal an. Die PS zweifelte nicht an, dass die Klägerin die Leistungen tatsächlich erbracht hatte. Allerdings monierte sie das häufige Fehlen der ICD-10-Kodierungen aus dem Bereich des § 22 der Psychotherapie-RL.
Die PS setzte sodann in diesem Bescheid die nachfolgenden Brutto-Honorarkürzungen für die GOP 35100 EBM fest:
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4,75 € je Fall |
x |
1.108 Fälle = 5.263,00 € für das 2. Quartal 2016 |
2,43 € je Fall |
x |
1.619 Fälle = 3.934,17 € für das 3. Quartal 2016 |
2,99 € je Fall |
x |
1.592 Fälle = 4.760,08 € für das 4. Quartal 2016 |
Insgesamt erfolgte eine Honorarkürzung in Höhe von 13.957,25€ brutto. Dies entsprach einer Nettohonorarkürzung in Höhe von 13.478,37€.
Mit Schreiben vom 26. September 2018 legte die Klägerin fristgerecht Widerspruch gegen den Bescheid der PS ein und wies auf die Stellungnahme zu einem Verfahren betreffend die Vorquartale gegen das ehemalige MVZ C-Straße GbR in A-Stadt hin. Ihr Patientenklientel bestehe zu ca. 90% aus Mitbürgern mit Migrationshintergrund, wovon ca. 90% türkischsprachiger Herkunft seien. Zu einem großen Teil seien aus der ersten Generation und nachweislich anfälliger für Erkrankungen im psychosomatischen und psychiatrischen Bereich. Dies gelte auch für die Folgegenerationen. In A-Stadt und Umgebung herrsche eine deutliche Unterversorgung an psychologischer Betreuung. Insbesondere in der Gruppe der türkischsprachigen Bevölkerung sei der Mangel eklatant. Wartezeiten bis zu...