Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. medizinische Rehabilitation. Wachkomapatient. Rehabilitationsfähigkeit und -prognose
Leitsatz (amtlich)
Zur Rehabilitationsfähigkeit eines Patienten im Wachkoma
Orientierungssatz
1. Der Anspruch des Versicherten auf Leistungen der ambulanten bzw. stationären Rehabilitation nach § 40 SGB 5 setzt dessen Behandlungsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und eine positive Rehabilitationsprognose voraus.
2. Die erforderliche Rehabilitationsfähigkeit ist u. a. dann nicht gegeben, wenn der Versicherte weder in der somatischen noch in der psychischen Verfassung ist, die notwendige Eigenmotivation aufzubringen.
3. An der erforderlichen positiven Rehabilitationsprognose fehlt es u. a. dann, wenn sich bei dem Versicherten nach der vorausgegangenen Reha-Behandlung keinerlei medizinisch validierbare Verbesserungen gezeigt haben.
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme.
Der im Jahre 19XX geborene Kläger leidet an einem Syndrom reaktionsloser Wachheit/minimalen Bewusstseins mit Tetraspastik nach Aneurysma (sog. Wachkoma). Seine Mutter und Betreuerin beantragte aufgrund Verordnung vom 11.04.2018 die Gewährung einer medizinischen Rehabilitation.
Mit Bescheid vom 23.05.2018 wurde der Antrag abgelehnt. Hiergegen wurde seitens der Mutter am 14.06.2018 Widerspruch eingelegt. Nach Einholung eines sozialmedizinischen Gutachtens vom MDK Bayern, datierend auf den 16.07.2018, wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.09.2018 abgelehnt. Rehabilitationsfähigkeit und -prognose seien unklar. Eine weitere ambulante haus- und fachärztliche Behandlung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung mit bedarfsgerechter Heilmitteltherapie sei sinnvoll und ausreichend.
Hiergegen richtet sich die Klage zum Sozialgericht München vom 18.09.2019.
Die Beklagte habe die Rehabilitation auch aufgrund fehlender Unterlagen abgelehnt. Die Mutter und Betreuerin des Klägers habe aber sämtliche Befunde an die Beklagte gesandt. Die Mutter des Klägers habe seit einiger Zeit den Eindruck, dass sich die Wahrnehmung des Klägers verändern würde und er sie nun wahrnehmen würde. Dieser Ausgangspunkt der Verbesserung der Wahrnehmung böte im Rahmen eines stationären Rehabilitationsaufenthalts Verbesserungsmöglichkeiten.
Die Klägervertreterin beantragt:
1. Der Bescheid vom 23.05.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.09.2018 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die begehrte medizinische Rehabilitationsmaßnahme zu genehmigen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf die Ermittlungen im Verwaltungsverfahren.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung der Befundberichte der behandelnden Ärzte und durch Beauftragung eines medizinischen Sachverständigengutachtens von Dr. E. auf sozialmedizinischem Fachgebiet (Beweisanordnung vom 11.04.2019).
Dr. E. führte am 17.04.2019 einen Hausbesuch beim Kläger durch. In seinem Gutachten vom 18.04.2019, das sechs Tage später dem Gericht vorgelegt wurde, berichtet der Gutachter, dass der Kläger in den Pflegegrad 5 eingruppiert sei und ein Grad der Behinderung von 100 anerkannt sei. Seit dem 09.09.2015 befinde er sich in einer ambulanten Wohngruppe in A-Stadt und werde über 24 Stunden vom ambulanten Intensivpflegedienst F. GmbH versorgt.
Der Gutachter legt die schwere Krankheitsgeschichte des Klägers dar nach Aneurysma und aufgrund von Komplikationen erfolgter Nekrose von Teilen des Gehirns. Der Kläger liege 20-21 Stunden pro Tag im Bett und würde lediglich für 3-4 Stunden pro Tag in einen Multifunktionsrollstuhl gesetzt. Sämtliche Pflegeleistungen müssten durch Pflegepersonen oder durch die Mutter erbracht werden; der Kläger selbst könne nicht mitwirken. Eine orale Nahrungsaufnahme sei wegen Schluckstörung nicht möglich. In der Begutachtungssituation habe der Kläger mit Mundbewegungen bei der Ansprache der Mutter reagiert. Jedoch seien diese nicht zielgerichtet provoziert und nach Ansicht des Gutachters eher zufällig gewesen. An der rechten Hand habe sich intermittierend ein Klonus (unwillkürliche, rhythmische Kontraktion der Muskeln) gefunden. Die Mutter habe dies als Zeichen der Reaktion auf Ansprache interpretiert. Der Gutachter führt hingegen aus, dass die Symptomatik nicht reproduzierbar gewesen sei.
Der Kläger sei in allen bedeutenden Lebensbereichen allerschwerstens eingeschränkt. Er könne sich nicht äußern und könne sich nicht mit der Umwelt oder mit Hobbys beschäftigen. Eine relevante Änderung der Fähigkeiten habe sich seit der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik G-Stadt im September 2015 nicht erkennbar eingestellt. Insoweit liege die primäre Indikation beim Kläger in der Kontrakturprophylaxe und der Behandlungspflege zur Vermeidung von Decubiti und Atemwegsinfekten (statuserhaltende Rehabilitation).
Die aktuell durchgeführte Physiotherapie einmal pro Woche erscheine zur Kontrakturprophylaxe ...