Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilferecht: Erbringung von Eingliederungsleistungen an Menschen mit Behinderung. Abgrenzung der Zuständigkeit des örtlichen Trägers der Sozialhilfe von denen des überörtlichen Sozialhilfeträgers im Freistaat Bayern. Voraussetzung der Annahme eines betreuten Wohnens bei Selbstanmietung einer Wohnung durch einen schwerstbehinderten Menschen

 

Orientierungssatz

1. Die Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe ist in Bayern in Bezug auf Eingliederungsleistungen für Menschen mit Behinderung nur begründet, wenn diese Leistungen Bestandteil einer Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder einem Aufenthalt in einem betreuten Einzelwohnen ist. Bei der Anmietung einer eigenen Wohnung ist dies nur dann gegeben, wenn die Leistungen des Sozialhilfeträgers über das hinausgehen, was zum Ausgleich der gesundheitsbedingten Defizite erforderlich ist und sich auf Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erstrecken, mit denen die Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung der alltäglichen Angelegenheiten des Betroffenen unterstützt werden soll.

2. Bei einem behinderten Menschen mit den intellektuellen Fähigkeiten eines Kleinkindes scheidet die Annahme einer eigengestalteten Lebensführung als Voraussetzung der Annahme eines betreuten Wohnens von vorn herein aus.

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

Bei dem im Jahre 1968 geborenen Leistungsempfänger, dem Beigeladenen zu 1, besteht infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung eine schwere geistige Behinderung und aufgrund der Folgen eines Sturzes im Jahre 2002 eine massive körperliche Behinderung (hohe Querschnittslähmung). Er erhält Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III.

Im Dezember 2007 beantragte er beim Kläger (örtlicher Sozialhilfeträger) Leistungen der Sozialhilfe, unter anderem der Hilfe zur Pflege. Der Betreuer des Beigeladenen zu 1 gab an, es habe sich für diesen "kurzfristig die Möglichkeit ergeben, in eine Wohngruppe unter ambulanter Pflege nach SGB XII zu ziehen". Er legte dem Kläger den Mietvertrag vom 29.11.2007 (siehe Blatt 6f Behördenakte des Klägers), den Servicevertrag vom 29.11.2007 (Blatt 8 Behördenakte) und den Pflegevertrag vom 01.12.2007 (Blatt 9ff Behördenakte) vor; Vertragspartner der beiden letztgenannten Verträge war die Beigeladene zu 2.

Der Kläger bewilligte dem Leistungsempfänger, erstmals mit Bescheid vom 07.02.2008, Leistungen der Hilfe zur Pflege ab dem 01.12.2007.

Mit Schreiben vom 30.07.2008 legte der Kläger dem Beklagten (überörtlicher Sozialhilfeträger) die Sache vor, "zur Entscheidung wegen dortiger Zuständigkeit". Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 09.04.2009 die Übernahme des Falles mit der Begründung ab, es liege kein ambulant betreutes Wohnen vor. Er bewilligte dem Beigeladenen zu 1 jedoch, erstmals mit Bescheid vom 25.09.2009, Leistungen der Eingliederungshilfe (ambulante Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft); hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 153ff der Behördenakte verwiesen.

Am 24.06.2013 ist die Klage beim Sozialgericht München eingegangen, zu deren Begründung der Kläger vorgebracht hat, der Beigeladene zu 1 erhalte Eingliederungshilfe in einer betreuten Wohnform. Somit sei, nach den Vorgaben des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) in seinem Urteil vom 21.02.2013 (L 18 SO 85/10) die "Allzuständigkeit" des überörtlichen Sozialhilfeträgers gegeben. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 2ff der Gerichtsakte Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die ab dem 01.01.2009 für den Beigeladenen zu 1. erbrachten Leistungen der Hilfe zur Pflege zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Leistungen der Eingliederungshilfe, welche ausschließlich dem Zweck der Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben dienten, wie das beim Beigeladenen zu 1 der Fall sei, stellten keine Hilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens dar. Die Argumentation des Beklagten im Detail ist Blatt 16f der Gerichtsakte zu entnehmen.

Dem Gericht lagen die Behördenakten des Klägers und des Beklagten bei seiner Entscheidung vor.

 

Entscheidungsgründe

Die als ("echte") Leistungsklage gem. § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte (vgl. dazu Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 10. Aufl. 2012, § 54 Rn. 41) und auch sonst zulässige Klage, welche sich auf den Erlass eines Grundurteils gem. § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG richtet (zur Zulässigkeit eines solchen Antrags siehe Bayerisches LSG, Urteil vom 21.02.2013, L 18 SO 85/10 in: juris), ist nicht begründet.

Dahinstehen kann, ob sich der hier streitige Anspruch auf Erstattung nach § 102 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) oder nach § 105 SGB X richtet. Somit muss auch nicht entschieden werden, wie der Umstand rechtlich zu bewerten ist, dass der Kläger die Leistungen der Hilfe zur Pflege nicht vorläufig, sondern, trotz der Zweifel an seiner Zuständigkeit, ("sehenden Auges...

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