Entscheidungsstichwort (Thema)
Kinder- und Jugendhilfe. gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder. Unterstützungsbedarf bei Pflege und Erziehung des Kindes. alleinerziehender behinderter Elternteil. Verhältnis zu anderen Leistungen. kein Vorrang der Sozialhilfe. Bestehen eines Leistungsanspruchs sowohl nach dem SGB 8 als auch nach dem SGB 12. Eingliederungshilfe. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Hilfen zur Wahrnehmung der Elternverantwortung. Gleichartigkeit der Leistungen. rein seelische Behinderung
Orientierungssatz
1. Vom Ziel des § 53 SGB 12 und des § 55 SGB 9, dem behinderten Menschen ein Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, ist es auch umfasst, ihm die Fähigkeiten zu vermitteln und die Hilfen zu gewähren, welche zur sachgerechten Wahrnehmung der Elternverantwortung notwendig sind.
2. Der von § 19 SGB 8 vorausgesetzte Hilfebedarf kann auch auf eine seelische, geistige oder körperliche Behinderung der Mutter oder des Vaters zurückgehen.
3. Die Regelung eines Nach- bzw Vorrangs zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe in § 10 Abs 4 SGB 8 setzt von vornherein voraus, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind.
Tenor
I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die für die Leistungsberechtigte A. im Zeitraum 23.02.2004 bis 15.12.2005 erbrachten Leistungen in Höhe von 60.880,82 € zu erstatten.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens zu 1/10, die Beklagte zu 9/10.
IV. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.
V. Der Streitwert wird auf 67.141,93 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, wer die Kosten für die Unterbringung der Beigeladenen in der Einrichtung “Haus B.„ in München im Zeitraum 12.12.2003 bis 15.12.2005 zu tragen hat.
Die 1966 geborene Beigeladene leidet laut ärztlichem Attest vom 05.11.2003 an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung und rezidivierenden depressiven Störung. Wegen der allgemein belastenden Lebenssituation (u.a. soziale Entwurzelung und Isolation, alkoholkranker Lebensgefährte, desolate finanzielle Situation) bestehe anhaltend eine ausgeprägte, stark flukturierende depressive Symptomatik sowie Selbstverletzungstendenzen. Sie lebt seit Mai 2002 mit ihren beiden 1989 und 2002 geborenen Töchtern sowie ihrem Lebensgefährten, der der Vater der jüngeren Tochter ist, in München. Die Familie wurde ab März 2003 durch die Jugendhilfe intensiv ambulant betreut. Die jüngere Tochter wurde im August 2003 in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht.
Die Beigeladene wurde am 12.12.2003 im “Haus B.„, einer intensiv betreuten stationären Übergangseinrichtung für psychisch kranke Mütter mit ihren Kindern, aufgenommen. Die jüngere Tochter verblieb zunächst noch in der Bereitschaftspflege und wurde am 23.02.2004 vollstationär im “Haus B.„ aufgenommen; die ältere Tochter war in einer Jugendwohngruppe untergebracht. Im Hilfeplan wurden von der Einrichtung folgende therapeutische Ziele definiert:
- Kontakt zur jüngeren Tochter wieder aufbauen
- emotionale Stabilität erreichen
- Selbstzweifel abbauen
- Mutter-Kind-Beziehung verbessern
- Erziehungskompetenzen entwickeln
- lernen, Grenzen zu setzen
- Alltag bewältigen
- Entwicklung einer Lebensperspektive
Am 19.11.2003 beantragte die Beigeladene bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Unterbringung von sich selbst und ihrer Tochter in der Einrichtung. Mit Fax vom 24.11.2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Kostenübernahme für die Mutter abgelehnt werde, da es sich um Eingliederungshilfe handle. Für die Unterbringung der Tochter würden die Kosten im Rahmen der Jugendhilfe übernommen. Der Kläger erklärte daraufhin mit Schreiben vom 08.12.2003 gegenüber der Beigeladenen die vorläufige Kostenübernahme. Mit Schreiben vom 22.12.2003 meldete der Kläger bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch an. Diesen lehnte die Beklagte am 05.02.2004 unter Verweis auf den Vorrang der Eingliederungshilfe ab.
Der Kläger erhob am 21.02.2005 beim Verwaltungsgericht Klage wegen Erstattung der erbrachten und noch zu erbringenden Sozialhilfeleistungen an die Beigeladene. Daraufhin fand am 26.10.2005 eine mündliche Verhandlung statt, ein Urteil wurde jedoch nicht verkündet. Der Rechtsstreit wurde statt dessen mit Beschluss vom 20.02.2006 wegen fehlender Rechtswegzuständigkeit an das Sozialgericht München (SG) verwiesen.
Die Beigeladene hat die Einrichtung am 15.12.2005 verlassen.
Der Kläger begründet die Klage im Wesentlichen damit, dass es sich beim “Haus B.„ um eine Mutter-Kind-Einrichtung handle. Die dort erbrachte Hilfe für die Beigeladene könne zwar auch Eingliederungshilfe wegen seelischer Behinderung sein, jedenfalls sei es aber eine Einrichtung nach § 19 SGB VIII. Ziel der konkreten Maßnahme sei, die aus der seelischen Behinderung resultierenden Defizite der Mutter soweit auszugleichen, ...