Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren: Kostentragungspflicht bei einer Untätigkeitsklage. Verantwortlichkeit für Verzögerungen im Verwaltungsverfahren
Orientierungssatz
1. Allein Beeinträchtigungen im Verwaltungsbetrieb durch die durch das SARS-CoV2-Virus ausgelöste Pandemielage mit den damit einhergehenden zeitweisen Einschränkungen des öffentlichen Lebens begründen für sich genommen noch keine ausreichende Rechtfertigung einer Verzögerung bei der Bearbeitung eines sozialverwaltungsrechtlichen Widerspruchsverfahrens. Dies gilt zumindest dann, wenn der Widerspruch bereits drei Monate vor Eintritt der Pandemielage erhoben wurde und der Widerspruchsführer in der Folgezeit keinerlei Informationen zu möglichen Bearbeitungsverzögerungen und zum Verfahrensstand erhalten hat, sodass er jedenfalls nach Ablauf von drei weiteren Monaten seit Begründung des Widerspruchs von einer Entscheidungsreife ausgehen konnte. Unterblieb dabei eine Information an den Widerspruchsführer, ist eine Untätigkeitsklage grundsätzlich gerechtfertigt.
2. Unterlässt es ein Widerspruchsführer vor Erhebung einer Untätigkeitsklage, einen Sachstand bei der Widerspruchsstelle anzufragen, stellt das jedenfalls dann eine Obliegenheitsverletzung dar, wenn dem Widerspruchsführer äußere Umstände bekannt sind, die sich auf die Bearbeitungsdauer der Widerspruchsstelle auswirken können (hier: Lock-down infolge der SARS-CoV2-Pandemie. Erhebt er dennoch ohne vorherige Sachstandsanfrage eine Untätigkeitsklage, ist es angemessen, ihn an den Kosten des Verfahrens zu beteiligen (hier: Kostenquote von 50 Prozent ermittelt)).
Tenor
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zur Hälfte ( 50 %).
Gründe
I.
Dieser Entscheidung liegt als Verfahren zugrunde die mittlerweile erledigte Untätigkeitsklage S 14 R 396/20, mit der die Klägerin geltend machte, die Beklagte habe nicht in der 3-Monats-Frist i.S.v. § 88 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) über ihren Widerspruch gegen die Ablehnung einer Erwerbsminderungsrente entschieden.
Am 25.01.2019 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, der mit Bescheid vom 26.11.2019 abgelehnt wurde. Mit Schreiben vom 02.12.2019, der Beklagten am selben Tag per Telefax zugegangen, erhob die Klägerin Widerspruch. Diesen begründete ihre Bevollmächtigte nach erfolgter Akteneinsicht am 25.02.2020. Am 26.02.2020 legte die Beklagte die Akte mit der Widerspruchsbegründung ihrem beratungsärztlichen Dienst zur Stellungnahme vor. Angesichts der Verschärfung der Corona-Krise verzögerte sich die Prüfung und Stellungnahme durch den beratungsärztlichen Dienst bis zum 22.05.2020. Vor einer abschließenden Entscheidung bat der beratungsärztliche Dienst der Beklagten mit Schreiben vom 25.05.2020 die behandelnde Ärztin Frau Dr. O. von der M.-Institutsambulanz N. um eine Stellungnahme zu der Rehabilitationsfähigkeit der Klägerin. Der Klägerin war bereits eine psychosomatische Rehamaßnahme bewilligt worden und diese wäre nach dem Grundsatz "Reha vor Rente" zunächst durchzuführen, sofern Rehabilitationsfähigkeit bestünde. Frau Dr. O. befand sich, wie die Beklagte durch telefonische Nachfrage erfuhr, vom 15.06.2020 bis zum 29.06.2020 im Urlaub, sodass noch keine Stellungnahme erfolgte. Die Beklagte kündigte an, sich Anfang Juli noch einmal mit der M.-Institutsambulanz in Verbindung zu setzen und um eine kurzfristige Beantwortung ihrer Anfrage zu bitten. Zwischenzeitlich erhielt die Klägerin keine weitere Sachstandsnachricht oder Entscheidung in der Sache. Sie stellte auch keine Sachstandsanfrage bei der Beklagten.
Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte habe auf die bei ihr durch die Corona-Pandemie bedingten Arbeitseinschränkungen und längeren Bearbeitungszeiten hinweisen müssen. Eine Nachfrage diesbezüglich sei nicht Aufgabe der Klägerin. Es gebe auch keinen sachlichen Grund dafür, dass der beratungsärztliche Dienst erst drei Monate nach Eingang der Widerspruchsbegründung eingeschaltet worden sei. Immerhin hätten zwischen der Widerspruchsbegründung, die die Beklagte am 25.02.2020 erhalten habe und dem "Lock-Down" aufgrund der Corona-Pandemie am 17.03.2020 volle drei Wochen gelegen. Auch unabhängig von den Corona-Einschränkungen habe die Beklagte zumindest einen geordneten, wenn auch abgespeckten Regelbetrieb sicherzustellen. Diese Einschränkungen seien kein Freibrief für ein vollständiges, dreimonatiges Ruhen der Sachbearbeitung.
Am 02.06.2020 hat die Klägerin Untätigkeitsklage bei dem Sozialgericht (SG) Münster erhoben.
Das Gericht hat daraufhin die Untätigkeitsumstände geprüft und nahm aufgrund des Ablaufs der Zeitspanne von sechs Kalendermonaten ab Widerspruchseinlegung durch die Klägerbevollmächtigte am 02.12.2019 bis zur Klageerhebung am 02.06.2020 die Untätigkeit der Beklagten an. Dabei wurden die Abläufe seit Beginn der Corona-Krise bewusst nicht mit einbezogen, da bereits bis zum "Lock-Down" Mitte März 2020 mehr als drei Monate vergangen...