Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. örtliche Zuständigkeit. Verweisung eines örtlich unzuständigen an ein anderes örtlich unzuständiges Sozialgericht. einfacher Irrtum des verweisenden Gerichts. Bindungswirkung. negativer Kompetenzkonflikt. Unzuständigkeitserklärung durch Gerichte verschiedener Zuständigkeitsbereiche. gemeinsam nächsthöheres Gericht
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Verweisung des örtlich unzuständigen Sozialgerichts an ein anderes örtlich unzuständiges Sozialgericht ist für das im Verweisungsbeschluss benannte Gericht jedenfalls dann bindend, wenn ein einfacher Irrtum des verweisenden Gerichts über die örtliche Zuständigkeit gegeben war, der für die Beteiligten nicht offensichtlich war.
2. Als nächsthöheres gemeinsames Gericht im Sinne des § 58 Abs 1 SGG ist das Bundessozialgericht auch dann anzurufen, wenn sich zwei zum Zuständigkeitsbereich eines Landessozialgerichts gehörende Sozialgerichte, von denen eines zuständig ist, für unzuständig erklärt haben und ein drittes Sozialgericht, das zum Zuständigkeitsbereich eines anderen Landessozialgerichts gehört, nicht als zuständiges Gericht in Betracht kommt.
Tenor
Das Sozialgericht Nordhausen erklärt sich für örtlich unzuständig.
Das Bundessozialgericht wird zur Bestimmung des zuständigen Gerichts innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit angerufen.
Das Verfahren wird bis zur Bestimmung des zuständigen Gerichts durch das höhere Gericht ausgesetzt.
Gründe
I.
Mit Bescheid vom 29. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 2021 lehnte die Beklagte einen Antrag des Klägers auf Erlass von Forderungen ab. In der Rechtsbehelfsbelehrung wies sie darauf hin, dass hiergegen Klage vor dem Sozialgericht (SG) Potsdam erhoben werden könne.
Am 30. Juli 2021 hat der im U-Kreis wohnhafte beschäftigungslose Kläger durch einen am Wohnort ansässigen Rechtsanwalt Klage vor dem SG Potsdam (Aktenzeichen ≪Az.≫ S 49 AS 760/21) erhoben. Mit Schreiben vom 9. August 2021 hat die dortige Kammervorsitzende die Beteiligten darüber informiert, dass aufgrund des Wohnsitzes des Klägers das SG Gotha zuständig sei und sie beabsichtige, die Streitsache an dieses Gericht zu verweisen. Sie hat Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 23. August 2021 gegeben. Mit Schreiben vom 18. August 2021 hat die Beklagte mitgeteilt, hiergegen keine Einwände zu haben. Mit Schreiben vom 23. August 2021 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers geäußert, es stehe der Verweisung an ein zuständiges Gericht klägerseits nichts entgegen. Mit Beschluss vom Folgetag hat sich das SG Potsdam für örtlich unzuständig erklärt und „den Rechtsstreit an das zuständige Sozialgericht Gotha“ verwiesen.
Bei Akteneingang beim SG Gotha am 7. September 2021 ist das Verfahren dort unter dem Aktenzeichen S 21 AL 1690/21 registriert worden. Mit Schreiben vom 15. März 2022 hat der dortige Kammervorsitzende die Akten an das SG Potsdam zurückgesandt, da der Beschluss vom 24. August 2021 offensichtlich falsch sei und nicht das SG Gotha, sondern das SG Meiningen örtlich zuständig sei. Er hat beantragt, den Beschluss entsprechend abzuändern.
Mit Schreiben an das SG Gotha vom 29. März 2022 hat die Vorsitzende der 49. Kammer des SG Potsdam mitgeteilt: Der Verweisungsbeschluss sei für beide Gerichte nach § 98 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit (i.V.m.) § 17a Absatz (Abs.) 2 Satz 3 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) bindend. Allein ein offensichtlicher Irrtum eines Gerichts lasse die Bindungswirkung nicht entfallen. Eine Ausnahme der fehlenden Bindungswirkung bildeten Willkür und Verfahrensfehler bei der getroffenen Entscheidung, wie es hier bei einem Irrtum über die Zuordnung des Ortes zum Gerichtsbezirk vorliegen dürfte. Das Verfahren sei beim SG Gotha anhängig und damit rechtshängig, sodass eine Verweisung an das örtlich zuständige Gericht aufgrund des Fehlers weiter möglich sein dürfte. Indes liege kein Fall der Berichtigung des Verweisungsbeschlusses vor. Ein offensichtlicher Fehler sei nicht gegeben, weil auch das SG Gotha seine eigene Unzuständigkeit nicht sofort erkannt habe. Im Übrigen dürfte auch nicht das SG Meiningen, sondern das SG Nordhausen örtlich zuständig sein.
Nach Rückgabe der Akten zum SG Gotha ist das Verfahren dort unter dem neuen Az. S 21 AL 664/22 registriert worden. Mit Vermerk vom 22. April 2022 hat der dortige Kammervorsitzende ausgeführt, dass die Rechtsauffassung des SG Potsdam unzutreffend sei, jedoch das Gericht keine Handhabe habe, das SG Potsdam zur Änderung seines rechtswidrigen Beschlusses zu zwingen. Nach einem Wechsel im Kammervorsitz hat der neue Vorsitzende der 21. Kammer des SG Gotha auf Verfügung vom 30. September 2022 die Beteiligten wegen einer beabsichtigten Verweisung an das SG Nordhausen mit der Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vierzehn Tagen angehört. Mit Beschluss vom 23. November 2022 hat das SG Gotha sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Nordhausen verwiesen.
Auf Verfügung vom 19. Dezember 2022 hat das erkennende Ge...