Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Nichtabgabe einer sog Freiwilligkeitserklärung. keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung des Aufenthalts
Leitsatz (amtlich)
1. Die Nichtabgabe einer von der Botschaft des Heimatlandes zur Ausstellung von Passersatzpapieren geforderten sog Freiwilligkeitserklärung (Erklärung freiwillig in das Heimatland zurückkehren zu wollen) stellt kein Verhalten nach § 1a Abs 3 AsylbLG dar (Anschluss an BSG vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R = BSGE 114, 302 = SozR 4-3520 § 1a Nr 1).
2. Zumindest im Zusammenhang mit der Kürzung von Leistungen unterhalb des Existenzminimums kann es keine Obliegenheit des Ausländers geben, gegenüber der Botschaft seines Heimatlands die Unwahrheit zu erklären (anders zu § 25 Abs 5 AufenthG [juris: AufenthG 2004]: BVerwG vom 10.11.2009 - 1 C 19/08 = BVerwGE 135, 219).
3. Die Freiwilligkeitserklärung kann nicht dergestalt ausgelegt werden, dass damit nur erklärt werde, der Ausländer komme seiner Ausreisepflicht nach. Gleiches gilt für eine Auslegung, dass die freiwillige Ausreise einer Abschiebung vorgezogen werde (Anschluss an BSG vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R = BSGE 114, 302 = SozR 4-3520 § 1a Nr 1; anders zu § 25 Abs 5 AufenthG [juris: AufenthG 2004]: BVerwG vom 10.11.2009 - 1 C 19/08 = BVerwGE 135, 219).
4. Die Nichtabgabe einer Freiwilligkeitserklärung stellt kein rechtsmissbräuchliches Verhalten iS des § 2 Abs 1 AsylbLG dar.
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 31.07.2019 bis zum 31.01.2020, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen nach § 2 AsylbLG in gesetzlichen Höhe zu gewähren.
Die Leistungsgewährung erfolgt vorläufig unter dem Vorbehalt eines anderweitigen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens S 44 AY 43/19.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich mit dem vorliegenden Verfahren gegen eine Kürzung seiner Leistungen nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und begehrt stattdessen Leistungen nach § 2 AsylbLG (hilfsweise nach § 3 AsylbLG).
Der Antragsteller ist somalischer Staatsangehöriger. Er reiste am 20.03.2013 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er steht bei dem Antragsgegner in Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG. Erstmals gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller mit Bescheid vom 21.05.2013 Leistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeit „ab dem 18.04.2013“. Mit Bescheid vom 17.02.2015 stellte der Antragsgegner die Leistungsgewährung „ab dem 01.03.2015“ auf Leistungen nach § 2 AsylbLG um.
Mit Bescheid vom 27.05.2015 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Flüchtlingseigenschaft bei dem Antragsteller nicht an, lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab und erkannte auch den subsidiären Schutz nicht zu. Darüber hinaus stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorlägen. Die dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Osnabrück mit Urteil vom 02.02.2016 ab (1 A 253/15).
Mit Schreiben vom 01.09.2016 wies der Antragsgegner den Antragsteller darauf hin, dass er seit dem 15.03.2016 vollziehbar zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sei. Weiterhin forderte er den Antragsteller auf, am 29.09.2016 bei ihm vorzusprechen. Mit Schreiben vom 11.10.2016 forderte der Antragsgegner den Antragsteller dazu auf, einen gültigen Pass oder Passersatz vorzulegen. Über die Mitwirkungspflichten wurde belehrt. Die Anschrift der zuständigen Botschaft in Berlin wurde genannt.
Mit Bescheid vom 13.10.2016 kürzte der Antragsgegner die Leistungsgewährung erstmalig „ab dem 01.10.2016“ auf Leistungen nach § 1a AsylbLG.
Der Antragsteller sprach bei der Botschaft der Republik Somalia vor. Dies bestätigte die Botschaft (Erklärung vom 21.11.2016) und wies zugleich auf Folgendes hin:
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“Die Botschaft der Republik Somalia möchte diese Gelegenheit nutzen, die zuständigen Behörden darüber zu informieren, dass jedem somalischen Staatsangehörigen, der freiwillig und ohne Zwang nach Somalia reisen möchte, auf Antrag unverzüglich ein Passersatzpapier ausgestellt wird. |
Es ist der Botschaft allerdings aus technischen Gründen auf unbestimmte Zeit nicht möglich, Nationalpässe auszustellen.“ |
Mit Schreiben vom 10.03.2017 teilte die vorherige Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit, dass es dem Antragsteller nicht möglich sei, einen Pass zu erhalten.
Mit Schreiben vom 10.05.2017 wandte sich der Antragsgegner an die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen mit der Bitte, ein Rückübernahmeersuchen an die somalische Botschaft zu stellen und die Ausstellung eines Heimreisedokuments zu beantragen. Darauf teilte die vorgenannte Behörde mit E-Mail vom 30.06.2017 mit, dass eine Passersatzpapierbeschaffung aussichtslos sei, da ...