Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Inkrafttreten der Versorgungsmedizinverordnung. Merkzeichen Bl. Visuelle Agnosie

 

Leitsatz (amtlich)

Auch nach Inkrafttreten der Versorgungsmedizinverordnung kann visuelle Agnosie die Zuerkennung des Merkzeichens Bl begründen.

 

Tenor

1. Der Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I., vom 31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 11.06.2007 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 20.06.2006 das Merkzeichen "Bl" zuzuerkennen.

3. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Tatbestand

Im vorliegenden Rechtsstreit begehrt der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" für Blind im Wege der Neufeststellung.

Der 1997 geborene Kläger leidet u.a. unter schwerstgradiger spastischer Tetraparese, unter multiplen Kontrakturen der Hüft- und Kniegelenke sowie unter einer hochgradigen Sehminderung.

Das Versorgungsamt J., Außenstelle I., stellte mit zuletzt bindend gewordenem Bescheid vom 31.7.1998 einen GdB von 100 fest und erkannte die Merkzeichen G, B, aG, Bl, H und RF zu. Der GdB-Feststellung lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde: "Entwicklungsstörungen mit Koordinationsstörungen, hirnorganische Anfälle bei frühkindlichem Hirnschaden" (Einzel-GdB 100); "Blindheit" (Einzel-GdB 100).

Im Juli 1999 leitete der Beklagte ein Überprüfungsverfahren ein. Vor Abschluss des Verfahrens verzichteten die Eltern des Klägers gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 13.2.2002 auf weitere Ansprüche aus der Blindengeldkasse. Mit Bescheid vom 19.2.2002 stellte das Versorgungsamt fest, dass der Verzicht auf die mit Bescheid vom 31.7.1998 erfolgte Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" zulässig war.

Am 20.6.2006 beantragte der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl".

Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I., holte einen Befundbericht von dem Augenarzt K. ein. Anschließend lehnte es mit Bescheid vom 31.7.2006 die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" ab. Zur Begründung führte es aus, dass nach den Richtlinien der DOG keine Blindheit bestehe. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und veranlasste den behandelnden Augenarzt L., eine ärztliche Stellungnahme gegenüber dem Landesamt abzugeben. Das Landesamt holte Gutachten von M. (Radiologe) und von der Augenärztin N. ein. Nach der Auswertung dieser Unterlagen wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.6.2007 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine im Vergleich zu anderen Modalitäten starke Betroffenheit des Sehapparates nicht habe festgestellt werden können, da höhergradige Schädigungen im Bereich der Sehrinde, der Sehbahnen oder der Sehnerven nicht nachgewiesen seien.

Hiergegen hat der Kläger am 9.7.2007 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung der Klage trägt er ergänzend und vertiefend vor, dass eine corticale Blindheit vorliege. Er fixiere keinerlei Objekte oder Licht. Ein Nystagmus sei nicht auslösbar. Lediglich das rechte Auge reagiere leicht auf direkten Lichteinfall. Eine spontane Reaktion der Pupillen finde nicht statt. Er sei in der Wahrnehmung von akustischen Reizen nicht eingeschränkt. Er leide unter einer faktischen Blindheit. Er beruft sich auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31.1.1995 (1 RS 1/93) und vom 20.7.2005 (B 9a BL 1/05 R). Der Kläger hat diverse Arztbriefe der Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde O. eingereicht.

Der Kläger beantragt,

1. den Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I. vom 31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 11.06.2007 aufzuheben,

2. den Beklagten zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "Bl" ab 20.06.2006 zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte meint demgegenüber, das Merkzeichen könne nicht zuerkannt werden.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines schriftlichen augenfachärztlichen Sachverständigengutachtens vom 14.9.2008 von Prof. Dr. Dr. Th..

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend verwiesen. Sie sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I. vom 31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 11.06.2007 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" ab 20.06.2006 (Antragsdatum), weil die entsprechenden medizinischen Voraussetzungen vorliegen.

I.

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