Entscheidungsstichwort (Thema)

Minderung des Arbeitslosengeld II. Eintritt von Sanktionstatbeständen vor dem 5.11.2019. Anforderungen an die vorherige Rechtsfolgenbelehrung. Rückwirkung der Rechtsprechung des BVerfG. Hinweis- und Aufklärungspflichten der Grundsicherungsträger. Aufhebung nicht bestandkräftiger rechtswidriger Sanktionsbescheide. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II liegt nur bei vorheriger schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis durch den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vor. Die gesetzlichen Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung müssen daher vollständig dargelegt (bzw gekannt) werden, einschließlich aller Möglichkeiten, die Rechtsfolgen des Sanktionstatbestands unter bestimmten Umständen abzumildern oder ganz zu vermeiden.

2. Hierzu gehören auch die Modifikationen, die das BVerfG in seinem Urteil vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16) mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs 2 BVerfGG) angeordnet hat. Diese gelten mangels entsprechender Einschränkungen im Tenor des Urteils rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der für mit der Verfassung unvereinbar erklärten Vorschriften (Anschluss an SG Hamburg vom 24.9.2020 - S 58 AS 369/17 = info also 2021, 86 = juris RdNr 37ff).

3. Aus der rückwirkenden Geltung der vom BVerfG festgelegten Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung nach § 31 Abs 1 SGB II ergibt sich, dass Betroffene auf diese Rechtsfolgen hätten hingewiesen werden müssen bzw ihnen diese hätten bekannt sein müssen, damit eine Minderung des Auszahlungsanspruchs hätte eintreten können. Der Umstand, dass den Behörden eine entsprechende Aufklärung bei Sanktionstatbeständen vor der Urteilsverkündung des BVerfG objektiv unmöglich war, ändert hieran nichts.

4. Hieraus folgt, dass alle Minderungsbescheide auf Grundlage der §§ 31a Abs 1 S 1, 2 und 3, 31b Abs 1 S 3 SGB II in Verbindung mit § 31 Abs 1 SGB II, die an Sachverhalte vor dem 5.11.2019 anknüpfen, rechtswidrig und - soweit nicht bestandskräftig (vgl § 40 Abs 3 S 1 Nr 1 SGB II) - aufzuheben sind.

 

Tenor

1. Der Bescheid vom 28.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.01.2019 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen einen Sanktionsbescheid.

Mit Bescheid vom 10.01.2018 hatte der Beklagte dem Kläger u.a. für die Zeit vom 01.11.2018 bis zum 31.12.2018 Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 416 Euro monatlich bewilligt.

Mit Schreiben vom 18.05.2018 machte der Beklagte dem Kläger einen Vermittlungsvorschlag über einen Arbeitsplatz als Lager- und Transportarbeiter bei der Firma P. P. und forderte den Kläger auf, sich auf diese Stelle zu bewerben.

Dem Schreiben war eine Rechtsfolgenbelehrung angefügt, die im Wesentlichen wie folgt lautete:

„Die §§ 31 bis 31b SGB II sehen bei einer Weigerung eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder mit einem Beschäftigungszuschuss geförderter Arbeit anzunehmen oder fortzuführen Leistungsminderungen vor. Das Arbeitslosengeld II kann danach - auch mehrfach nacheinander - gemindert werden oder vollständig entfallen.

Wenn Sie sich weigern, die Ihnen mit diesem Vermittlungsvorschlag angebotene Arbeit aufzunehmen oder fortzuführen, wird das Ihnen zustehende Arbeitslosengeld II um einen Betrag in Höhe von 30 Prozent des für Sie maßgebenden Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 SGB II gemindert.

Ein solcher Pflichtverstoß liegt auch vor, wenn Sie die Aufnahme der angebotenen Arbeit durch negatives Bewerbungsverhalten vereiteln.

Leistungsminderungen treten nicht ein, wenn Sie einen wichtigen Grund für den Pflichtverstoß darlegen und nachweisen können. Ein nach Ihrer Auffassung wichtiger Grund, der jedoch nach objektiven Maßstäben nicht als solcher anerkannt werden kann, verhindert nicht den Eintritt der Leistungsminderung.

Die Minderung dauert drei Monate (Sanktionszeitraum) und beginnt mit dem Kalendermonat nach Zugang des Sanktionsbescheides. Während dieser Zeit besteht kein Anspruch auf ergänzende Hilfen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (Sozialhilfe).

(…)

Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs können auf Antrag ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbracht werden. Diese sind grundsätzlich zu erbringen, wenn minderjährige Kinder im Haushalt leben. Beachten Sie aber, dass Sie vorrangig Ihr Einkommen und verwertbares Vermögen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einsetzen müssen.

(…)“.

Der Kläger meldete sich telefonisch bei der Firma P.. Es kam aber nicht zum Abschluss eines Arbeitsvertrages.

Mit Bescheid vom 28.09.2018 stellte der Beklagte gegenüber dem Kläger eine Minderung des Arbeitslosengeldes II für den Zeitraum vom 01.11.2018 bis zum 31.01.2019 in Höhe von 124,80 Euro monatlich fest und hob den Bewilligungsbescheid vom 10.01.2018 für den Zeitraum vom 01.11.2018 bis zum 31.12.2018 insoweit auf. Dem Kläger s...

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