Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Krankengeld. ärztliche Arbeitsunfähigkeitsfeststellung. befristete Bewilligung von Krankengeld. nahtlose Attestierung von Arbeitsunfähigkeit. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bei irreführenden Formularen der Krankenkasse (hier: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung). Rechtsinstitut der Nachsichtgewährung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsfeststellung, in der lediglich "voraussichtlich arbeitsunfähig bis" bescheinigt wird, rechtfertigt nicht die Annahme einer (stillschweigend) befristeten Bewilligung von Krankengeld bis genau zu diesem "voraussichtlichen" Ende der Arbeitsunfähigkeit.

2. Liegen zwischen dem letzten Tag der attestierten Arbeitsunfähigkeit und der erneuten Attestierung von Arbeitsunfähigkeit kein weiterer Arbeitstag oder nur arbeitsfreie Tage (Samstage, Sonn- und Feiertage) besteht eine nahtlose Attestierung von Arbeitsunfähigkeit, mit der Folge, dass ein nicht ausdrücklich befristeter Krankengeldanspruch gar nicht erst neu entstehen muss (§ 46 S 1 Nr 2 SGB 5), sondern nahtlos fortbesteht und die Mitgliedschaft nach 192 Abs 1 Nr 2 SGB 5 erhalten bleibt.

3. Die von den Krankenkassen mit zu vertretende bzw. geduldete Verwendung irreführender Formulare (hier Vordruck Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung) führt jedenfalls zu einem konkret erkennbaren Beratungsbedarf, der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bildet.

4. Auch das Rechtsinstitut der "Nachsichtgewährung" (vgl BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 166/11 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 31) kann die Krankenkasse verpflichten, keine offensichtlich unangemessenen (unverhältnismäßigen) Rechtsfolgen an eine allenfalls geringfügige, von ihr selbst durch unzureichende Information und Beratung mitverursachte Obliegenheitsverletzung des Versicherten zu knüpfen.

 

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 21.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.05.2012 wird abgeändert. Die Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger auch über den 28.11.2011 Krankengeld nach den gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

 

Tatbestand

Mit der am 02.07.2012 beim Sozialgericht Trier erhobenen Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 21.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.05.2012 begehrt der Kläger die Zahlung von Krankengeld über den 28.11.2011 hinaus.

Der …19… geborene Kläger war seit 1991 beim W in Trier beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde nach vorangegangener arbeitgeberseitiger Kündigung am 31.01.2012 aus krankheitsbedingten Gründen in einem Vergleich vor dem Arbeitsgericht rückwirkend zum 23.11.2011 beendet.

Beim Kläger war ab 17.10.2011 mit Bescheinigung der Praxis aus S eine depressive Episode und eine akute Belastungsreaktion diagnostiziert und Arbeitsunfähigkeit attestiert.

Am 14.11.2011 wurde von diesen Ärzten eine Folgebescheinigung über eine "voraussichtlich" bis einschließlich Montag, 28.11.2011 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit ausgestellt.

Am 29.11.2011 wurde erneut Arbeitsunfähigkeit bis "voraussichtlich" 06.12.2011 attestiert (Bl. 47 Krankenkassenakte).

Mit Bescheid vom 21.02.2012 teilte die Beklagte dem Kläger schließlich mit, Anspruch auf Krankengeld bestehe nur bis einschließlich 28.11.2011. Der Versicherungsschutz aufgrund der Beschäftigung bei der Firma nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB 5 habe mit dem Ende des entgeltlichen Beschäftigungsverhältnis am 23.11.2011 geendet.

Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses habe aufgrund der attestierten Arbeitsunfähigkeit mit Krankengeldbezug ab 24.11.2011 die Mitgliedschaft zwar fortbestanden (§ 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB 5). Da aber bei der Ausstellung der Folgebescheinigung am 29.11.2011 der Krankengeldanspruch erst am Folgetag, also am 30.11.2011 entstanden sei und an diesem Tag schon keine Mitgliedschaft mehr mit Anspruch auf Krankengeld bestanden habe, sei die Krankengeldzahlung zum 28.11.2011 einzustellen (Widerspruchsbescheid vom 29.05.2012).

Der Kläger macht geltend, er habe seine Obliegenheitsverpflichtung zum Nachweis der Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit durch den Arztbesuch am Folgetag des letzten ausgestellten Krankheitstages erfüllt. Er habe nicht wissen können, dass er rechtzeitig vor Ablauf der Frist des Krankgeldbezuges eine ärztliche Bestätigung besorgen müsse. Er leide an einem starken Burnout, weshalb ihm auch nicht zuzumuten sei, sich über die Besonderheiten der Voraussetzung eines Krankengeldanspruches zu informieren. Er habe selbstverständlich darauf vertraut, dass die übliche fortgesetzte Attestierung der Krankheit durch den Arzt ausreiche. Auch dem behandelnden Arzt sei der vorliegende Sachverhalt nicht bekannt gewesen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 21.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.05.2012 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm auch über den 28.11.2011 hinaus Krankengeld zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzu...

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