2.1.1 Rechtsanspruch
Rz. 8
Abs. 1 beschreibt den Rechtsanspruch des Versicherten auf medizinische Vorsorgeleistungen im Rahmen der ambulanten Behandlung. Dieser Anspruch umfasst aufgrund der erweiterten Aufgabenstellung der Vorsorge (vgl. § 11) nunmehr primär- und sekundärpräventive Zielsetzungen. Im Gegensatz zur Krankenbehandlung setzen Vorsorgeleistungen nach § 23 nicht das Bestehen einer Krankheit voraus, sind allerdings bei Vorliegen einer Krankheit auch nicht ausgeschlossen (vgl. Abs. 1 Nr. 3). § 23 begründet vielmehr bereits einen Anspruch auf (Vorsorge-)Leistungen, wenn sich beim Versicherten noch keine Krankheit manifestiert hat, womit über die vertragsärztlichen Leistungen hinaus ein breiteres Leistungsspektrum insbesondere mit ganzheitlichen Leistungsangeboten und Komplexleistungen eröffnet wird (BSG, Urteil v. 11.5.2017, B 3 KR 17/16 R, Rz. 51).
Rz. 9
Unter Primärprävention sind alle Maßnahmen zu verstehen, die einen gesunden Menschen gesund erhalten sollen. Die Entstehung von Krankheit soll also hierbei vermieden oder zumindest zeitlich hinausgeschoben werden. Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Krankheitsanfälligkeit zu verringern und die Widerstandskraft zu erhöhen. Folgerichtig wurden deshalb die Schutzimpfungen durch das GKV-GRG 2000 von § 20 Abs. 2 in den Abs. 9 des § 23 (jetzt geregelt in § 20i) aufgenommen.
Rz. 10
Unter Sekundärprävention wird die möglichst frühe Erkennung einer bereits vorhandenen Gesundheitsbeeinträchtigung verstanden, um rechtzeitig mit der Behandlung beginnen zu können. Durch diese Maßnahmen soll so früh wie möglich in einen Krankheitsprozess eingegriffen und somit einer Verschlimmerung vorgebeugt werden. Dementsprechend wurde Abs. 1 Nr. 3 durch das GKV-GRG 2000 um die Worte "Krankheiten verhüten oder deren Verschlimmerung zu vermeiden" ergänzt.
2.1.2 Anspruchsvoraussetzungen
Rz. 11
Der Anspruch auf medizinische Vorsorgeleistungen setzt grundsätzlich eine Vorsorgebedürftigkeit voraus. Diese besteht, wenn beeinflussbare Risikofaktoren oder Gesundheitsstörungen vorliegen, die voraussichtlich in absehbarer Zeit zu einer Krankheit führen werden, oder wenn die gesundheitliche Entwicklung eines Kindes/Jugendlichen gefährdet ist (Primärprävention). Darüber hinaus besteht Vorsorgebedürftigkeit ebenfalls, wenn bei manifester (chronischer) Krankheit drohende Beeinträchtigungen der Aktivitäten verhindert, das Auftreten von Rezidiven bzw. Exazerbationen vermieden bzw. deren Schweregrad vermindert oder dem Fortschreiten der Krankheit entgegengewirkt werden soll (Sekundärprävention). Die auf das Gesundheitsproblem sowohl positiv wie negativ wirkenden Umwelt- und personenbezogenen Kontextfaktoren (z. B. Partnerprobleme, Verantwortung für die Pflege von Familienangehörigen, ständiger Zeitdruck, finanzielle Sorgen, soziale Isolation) sind zu berücksichtigen. Beeinflussbare medizinische Risikofaktoren (z. B. Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, Alkohol-/Nikotinkonsum), die ein bereits bestehendes Gesundheitsproblem verstärken, sind zu beachten. Vorsorgebedürftigkeit ist nur dann anzunehmen, wenn über die kurative Versorgung hinaus der komplexe (interdisziplinäre, mehrdimensionale) Ansatz der Vorsorgeleistung erforderlich ist (Ziff. 1.4.3 der Begutachtungs-Richtlinie).
Rz. 11a
Weiteres ungeschriebenes Merkmal ist die Vorsorgefähigkeit. Von ihr kann nur ausgegangen werden, wenn der Versicherte/die Versicherte motiviert bzw. zu motivieren ist, körperlich und geistig in der Lage ist, am festgelegten Vorsorgeprogramm teilzunehmen und bereit ist bzw. befähigt werden kann, konsequent und langfristig sein/ihr Gesundheitsverhalten i. S. einer Risikobeseitigung bzw. -verminderung zu ändern bzw. durch Krankheitsbewältigungsstrategien zu lernen, mit der chronischen Krankheit besser zu leben.
Rz. 11b
Die Voraussetzungen, unter denen im Einzelnen medizinische Vorsorgeleistungen in Betracht kommen, sind in Nr. 1 bis 4 des Abs. 1 aufgeführt.
Eine Schwächung der Gesundheit (Nr. 1) liegt vor, wenn der Allgemeinzustand des Versicherten so labil ist, dass in absehbarer Zeit bei gleich bleibender beruflicher und sonstiger Belastung eine Krankheit eintritt. Mit Gesundheit ist sowohl die körperliche als auch die seelische Gesundheit gemeint. Eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen kann, ist z. B. bei psycho-vegetativen Funktionsstörungen sowie bei Risikofaktoren (Übergewicht, Bluthochdruck) gegeben. Die Beeinträchtigungen müssen noch nicht das Ausmaß einer Krankheit erreicht haben.
Kindern werden medizinische Vorsorgeleistungen (Nr. 2) zur Verfügung gestellt, wenn die Gefahr besteht, dass die gesundheitliche Entwicklung des Kindes beeinträchtigt wird. Die Verhütung anderer Gefährdungen gehört nicht zum Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Als Kinder in diesem Sinne gelten alle Versicherten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.
Krankheiten zu verhüten oder deren Verschlimmerung zu vermeiden (Nr. 3) ist nach der in § 11 vorgenommen Abgrenzung Aufgabe sowohl der Vorsorge als auch der Behandlung....