Rz. 10
Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 und 3 der "Richtlinie über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V" (AU-RL; Fundstelle Rz. 40) liegt Arbeitsunfähigkeit vor, wenn Versicherte aufgrund von Krankheit ihre zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen können. Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass wegen der weiteren Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 AU-Richtlinie sowie BSG, Urteil v. 15.11.1984, 3 RK 21/83).
Als Maßstab zur Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bleibt auch bei längeren Arbeitsunfähigkeitszeiten immer die zuletzt ausgeübte Tätigkeit (= "Anforderungen und Bedingungen des letzten Arbeitsplatzes", Rz. 10) mit den arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsanforderungen und die sich daraus ergebenden körperlichen, geistigen und seelischen Belastungen maßgebend (z. B. regelmäßiges Heben von schweren Gegenständen über 45 kg). Unbedeutend ist, ob es sich bei der zuletzt ausgeübten Tätigkeit um den ursprünglich erlernten Beruf handelt.
Der Begriff Arbeitsunfähigkeit bezieht sich ausschließlich auf das aktuelle Berufsleben.
Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung muss erkennen lassen, ob es sich um eine Erst- oder Folgebescheinigung handelt. Eine Erstbescheinigung ist auszustellen, wenn die Arbeitsunfähigkeit erstmalig festgestellt wird (§ 5 Abs. 1 Satz 6 und 7 AU-RL).
Rz. 11
Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 5 AU-RL ist bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit (= arbeitsvertraglich geschuldete Leistung) konkret geprägt haben. Die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit setzt eine Befragung des Versicherten durch den behandelnden Arzt zur aktuell ausgeübten Tätigkeit und den damit verbundenen Anforderungen und Belastungen voraus. Die Beurteilung, ob eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, ist nämlich immer individuell zu betrachten. Ob eine Krankheit zur Arbeitsunfähigkeit führt, hängt im Endeffekt ab von
- den sich aus der Krankheit ergebenden Funktionsstörungen in Bezug auf Aktivitäten und Teilhabe,
- der krankheitsbedingten körperlichen, geistigen oder psychischen Minderbelastbarkeit und
- den konkreten Anforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes.
Selbst gleiche Krankheitsausprägungen können zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, wenn die Anforderungen am konkreten Arbeitsplatz unterschiedlich sind.
Wegen eines akuten Rückenleidens kann der versicherungspflichtig beschäftigte Fliesenleger nur noch höchstens 10 kg tragen und auch nur noch kurze Zeit im Bücken arbeiten. Der Fliesenleger ist
- Alternative a: auf einer Baustelle mit dem Fliesen von Fußböden eingesetzt (Arbeitszeit: 8 Stunden täglich).
- Alternative b: in der Verkaufsabteilung eines Baumarktes tätig, in der er bei sitzender oder stehender Tätigkeit in einer Verkaufsausstellung Kunden berät und auch keine Lasten, die schwerer als 10 kg sind, tragen muss.
Fazit:
Nur der unter Alternative a aufgeführte Fliesenleger ist arbeitsunfähig, weil ihm seine bisherige Tätigkeit wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht weiter zugemutet werden kann.
Einzubeziehen sind auch die gesundheitlichen Belastungen für die Zurücklegung des Weges zur Arbeitsstätte und zurück. Allerdings: Allein die Tatsache, dass z. B. ein Arbeitnehmer wegen Krankheit den Arbeitsplatz nicht erreichen, seine Arbeit an sich aber ausführen kann, reicht nicht dafür aus, arbeitsunfähig krankgeschrieben zu werden. Der Arbeitnehmer ist in einem solchen Fall verpflichtet, auf eigene Kosten ein geeignetes und zumutbares Transportmittel zum Arbeitsplatz zu nutzen (z. B. statt Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln Fahrten mit eigenem PKW oder Mietwagen).
Rz. 12
Ist der Arbeitgeber aufgrund seines durch den Arbeitsvertrag begründeten Direktionsrechts berechtigt, den Versicherten auf einen anderen Arbeitsplatz zu versetzen (z. B. wenn im Arbeitsvertrag steht, dass der Arbeitnehmer nach Wahl des Arbeitgebers abwechselnd im Innen- als auch im Außendienst eingesetzt werden kann), endet die Arbeitsunfähigkeit mit der Zuweisung dieses anderen Arbeitsplatzes. Voraussetzung ist, dass der Versicherte dem anderen Arbeitsplatz gesundheitlich gewachsen ist (BSG, Urteil v. 7.8.1991, 1/3 RK 28/89; vgl. hierzu auch BSG, Urteil v. 16.9.1986, 3 RK 27/85).
Rz. 13
Bei Arbeitnehmern, deren Beschäftigungsverhältnis während der Arbeitsunfähigkeit endet, ist für die Beurteilung der weiteren Arbeitsunfähigkeit zu unterscheiden, ob der Arbeitnehmer in einem anerkannten Ausbildungsberuf tätig war oder nicht. Ob ein anerkannter Ausbildungsberuf vorliegt, ergibt sich aus dem vom Bundesinstitut für Berufsausbildung jährlich herausgegebenem u...