Rz. 90
Mit dem "Gesetz zur Sicherung der Betreuung und Pflege schwerstkranker Kinder" aus dem Jahr 2002 hat der Gesetzgeber den Eltern von schwerstkranken Kindern mit einer nur kurzen Lebenserwartung einen Anspruch auf Kinderkrankengeld ohne zeitliche Befristung eingeräumt. Es wird gemäß Abs. 4 gezahlt, wenn
- das Kind an einer Erkrankung leidet, die progredient (fortschreitend) verläuft und bereits ein weit fortgeschrittenes Stadium erreicht hat und
- eine Heilung ausgeschlossen und eine palliativ-medizinische Behandlung notwendig oder von einem in Haushalt lebenden Elternteil (leibliche Eltern, Adoptiveltern, Pflegeeltern, Großeltern, Stiefeltern) erwünscht ist und
- das Kind lediglich eine begrenzte Lebenserwartung von Wochen oder wenigen Monaten hat.
Dieses Kinderkrankengeld kann lediglich von einem Elternteil beansprucht werden; ein gleichzeitiger Anspruch beider Elternteile ist ausgeschlossen (§ 45 Abs. 4 Satz 2).
Außerdem besteht noch eine weitere Besonderheit: Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 3 berechnet sich das Krankengeld nach § 47 oder – bei Beziehern von Arbeitslosengeld – nach § 47b. Somit sind die Krankengeldberechnungsvorschriften, die bei Arbeitsunfähigkeit des Versicherten maßgeblich wären, anzuwenden. Anstelle des Beginns der Arbeitsunfähigkeit tritt der Beginn des Freistellungsanspruchs i. S. d. § 45 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. Abs. 3. Das bedeutet, dass z. B. bei Arbeitnehmern
- als Bemessungszeitraum für die Berechnung des Kinderkrankengeldes der letzte, vom Arbeitgeber abgerechnete Entgeltabrechnungszeitraum vor der Freistellung von der Arbeit (§ 45 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 3) zugrunde gelegt wird,
- das Kinderkrankengeld 70 % des Regelentgelts, höchstens aber 90 % des Nettoarbeitsentgelts, beträgt.
Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Komm. zu § 47 und § 47b verwiesen.
Rz. 91
Der behandelnde Arzt, der kein Vertragsarzt sein muss, kann das Vorliegen der oben genannten medizinischen Voraussetzungen dokumentieren. In der Praxis geschieht dieses entweder
- mit dem in der kassenärztlichen Versorgung verwendeten Vordruck "Muster 21" (vgl. Rz. 14), auf dem der Arzt auf freien Flächen des Vordrucks handschriftlich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 4 bestätigt oder
- durch eine individuelle Bescheinigung, aus der neben der Diagnose auch das Krankheitsstadium und die voraussichtliche Lebenserwartung des Kindes hervorgehen.
Rz. 92
Der Anspruch auf Kinderkrankengeld besteht gemäß BT-Drs. 14/9031 v. 14.5.2002 ohne zeitliche Begrenzung (keine Höchstanspruchsdauer) – und zwar auch dann, wenn das betreffende, schwerstkranke Kind
- stationär in einem Kinderhospiz versorgt wird,
- ambulante Leistungen eines Hospizdienstes erhält oder
- sich im Krankenhaus in einer palliativ-medizinischen Behandlung befindet.
Könnte der Elternteil wegen seiner stationären Mitaufnahme ins Krankenhaus auch Kinderkrankengeld nach § 45 Abs. 1a erhalten, hat der Elternteil ein Wahlrecht, ob er Kinderkrankengeld nach Abs. 1a oder Abs. 4 in Anspruch nehmen will (BT-Drs. 20/8901 v. 18.10.2023 S. 163 f.). Entscheidet sich der Elternteil für den Anspruch nach Abs. 4, ist der zeitgleiche Anspruch nach Abs. 1a ausgeschlossen (§ 45 Abs. 1a Satz 6). Statt der 90 % bzw. 100 % des Nettoverdienstausfalls wird dann Kinderkrankengeld in Höhe von 70 % des Regelentgelts bzw. 90 % des Nettoarbeitsentgelts gezahlt.
Pflegeleistungen nach dem SGB XI schließen den Krankengeldanspruch nach § 45 Abs. 4 nicht aus (BT-Drs. 14/9031 v. 14.5.2002).
Rz. 93
Der Anspruch auf das Kinderkrankengeld nach § 45 Abs. 4 ist daran geknüpft, dass das Kind das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder behindert und auf Hilfe angewiesen ist. I.d.R. wird in dem Stadium, in dem sich das schwerstkranke Kind befindet, auch eine Behinderung (§ 2 SGB IX) vorliegen, sodass für das Kind, das während des Bezuges von Kinderkrankengeld das 12. Lebensjahr vollendet, weiterhin – längstens bis zum Tod des Kindes – ein Anspruch auf Kinderkrankengeld und somit ein Anspruch auf Freistellung von der Arbeit (§ 45 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. Abs. 3 Satz 1) besteht.
In der Praxis der Krankenkassen wird immer wieder die Frage gestellt, ob der Elternteil auch für sein volljähriges Kind noch Kinderkrankengeld i. S. d. § 45 Abs. 4 beanspruchen kann, wenn dieses z. B. mit 24 Jahren erstmals schwer i. S. d. Abs. 4 erkrankt. Hier vertritt der Autor die Auffassung, dass die oben aufgeführte Altersgrenze vom vollendeten 12. Lebensjahr nur aufgehoben werden kann, wenn die Behinderung – in Angleichung an die sich bei § 10 SGB V ergebende Problematik der Familienversicherung -
- bis zum vollendeten 18. Lebensjahres oder
- während der Schul- oder Berufsausbildung, spätestens aber bis vor Vollendung des 25. Lebensjahres
eingetreten ist (BSG, Urteil v. 26.10.1990, 12/3 RK 27/88).