Rz. 162
Aufgrund der Vielzahl der gegenwärtig bei den Gerichten anhängigen Verfahren, deren Sachverhalte noch auf Grundlage der bis zum 31.12.2016 geltenden Rechtslage zu entscheiden sind, wird nachfolgend auch die – weitestgehend unverändert gebliebene – alte Fassung der Kommentierung aufgeführt.
2.2.1 Überblick
Rz. 163
Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten nur Personen, bei denen der Zustand der Pflegebedürftigkeit (Versicherungsfall) vorliegt und ärztlich festgestellt worden ist (vgl. § 18). Dieses hat sowohl für den Leistungsberechtigten wie für die Pflegekassen als auch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung als untersuchende und ärztlich feststellende Einrichtung erhebliche Bedeutung. Das eigentliche Problem liegt in der begrifflichen Abgrenzung zwischen dem Zustand der Krankheit i. S. d. gesetzlichen Krankenversicherung und dem der Pflegebedürftigkeit i. S. d. gesetzlichen Pflegeversicherung sowie der damit verbundenen Zuständigkeit der Leistungsträger.
Rz. 164
Nach § 27 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung aus der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn die Krankenbehandlung notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Begriff der Pflegebedürftigkeit ist hingegen weiter gehender und stellt, wie der Krankheitsbegriff einen eigenständigen Versicherungsfall dar, der von der Pflegebedürftigkeit nach anderen Gesetzen abzugrenzen ist. Die Geltung dieses Begriffs erstreckt sich jedoch auch auf die gesetzlich normierte private Pflegeversicherung.
2.2.2 Definition und Anspruchsgrundlagen
2.2.2.1 Begriff der Krankheit
Rz. 165
Eine Definition des Begriffs der Krankheit enthält das SGB XI selbst nicht. Nach der ständigen Rechtsprechung von RVA und BSG ist eine Krankheit i. S. der gesetzlichen Krankenversicherung dann anzunehmen, wenn ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand vorliegt, der entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat und vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 20.10.1972, 3 RK 93/71; BSG, Urteil v. 12.11.1985, 3 RK 48/83; BSG, Urteil v. 10.2.1993, 1 RK 14/92; BSG, Urteil v. 19.10.2004, B 1 KR 3/03 R; BSG, Urteil v. 28.2.2008, B 1 KR 19/07 R). Der durch die ständige Rechtsprechung geprägte krankenversicherungsrechtliche Krankheitsbegriff ist bei der Auslegung des Krankheitsbegriffs in § 14 SGB XI heranzuziehen.
2.2.2.2 Begriff der Behinderung
Rz. 166
Der Begriff der Behinderung wird im SGB XI nicht erläutert. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt eine Behinderung vor, wenn die körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und hierdurch die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dieser Behinderungsbegriff findet grundsätzlich auch im Krankenversicherungsrecht Anwendung (BSG, Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 66/01 R), so dass im Sinne einer einheitlichen Rechtsanwendung im Rahmen des § 14 SGB XI ebenfalls auf die Definition der Behinderung in § 2 Abs. 1 SGB IX zurückgegriffen werden kann.
Rz. 167
Zu unterscheiden sind Krankheit und Behinderung insofern voneinander, als die Behinderung auf einem als dauerhaft einzuschätzenden regelwidrigen körperlichen Zustand beruht, während der Krankheitsbegriff vorübergehende Regelabweichungen ausreichen lässt (BSG, Urteil v. 19.4.2004, B 1 KR 3/03 R). Allerdings entfaltet diese Unterscheidung bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI keine Wirkung, da § 14 Abs. 1 SGB XI mit der Formulierung "auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate" einen eigenständigen Zeitparameter vorgibt.
2.2.2.3 Pflegebedürftigkeit als Tatbestand der Pflegeversicherung
Rz. 168
Ähnlich wie der Krankheitsbegriff der Krankenversicherung ist auch der Begriff der Pflegebedürftigkeit als Tatbestand sowie dessen Auslegung durch die Rechtsprechung geprägt. Überdies ist in Abs. 1 klargestellt, dass Pflegebedürftigkeit infolge körperlicher, geistiger oder seelischer Krankheit mit einhergehendem Hilfebedarf für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens Leistungen nach §§ 28 ff. auslöst.
Rz. 169
Nach § 14 steht im Mittelpunkt der Definition des Begriffs Pflegebedürftigkeit die Hilflosigkeit des Pflegebedürftigen für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens. Neben dem Kreis der Schwer- und Schwerstpflegebedürftigen werden auch die erheblich Pflegebedürftigen in den Kreis der leistungsberechtigten Personen einbezogen. Die Hilflosigkeit muss nicht in sehr hohem Maße, sondern lediglich in erheblichem Maße bestehen.
Rz. 170
Die Einbeziehung der erheblich pflegebedürftigen Personen entspricht dem Zweck des Gesetzes, wonach die Pflegeversicherung eine möglichst breite Absicherung des Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit bieten soll, wobei der Pflegebedürftige die Hilfe der Solidargemeinschaft erwarten kann. Bei Einführung der Pflegeversicherung war beabsichtigt, dass diese lediglich einen ersten Schritt zur Abdeckung des Gesam...