Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verschuldenskosten. pflichtwidriges Unterlassen von erkennbaren und notwendigen Ermittlungen im Verwaltungsverfahren. Kosten für ein gerichtliches Sachverständigengutachten. Einwendung eines kostengünstigeren Wegs zur Sachverhaltsaufklärung
Leitsatz (amtlich)
Wenn die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren pflichtwidrig unterlässt, kann sie im Rahmen von § 192 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (juris: SGG) gegen das vom Gericht zur Nachholung gewählte Mittel nicht einwenden, sie hätte einen kostengünstigeren Weg zur Sachverhaltsaufklärung gewählt. Sie muss auch dann für die Kosten eines vom Gericht eingeholten Sachverständigengutachtens aufkommen, wenn sie ihrer Amtsermittlungspflicht durch Einholung von qualifizierten Befundberichten genügt hätte.
Normenkette
SGG § 192 Abs. 4 S. 1, §§ 183, 197a Abs. 1; SGB X § 20 Abs. 1-2, § 21 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 2; JVEG § 8a Abs. 2 S. 1 Nr. 2; VwGO § 154 Abs. 2; GKG § 3 Abs. 1
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 16. Juni 2015 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Die statthafte und auch ansonsten zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht dem Beklagten die Kosten des gerichtlichen Sachverständigengutachtens des Dr. Sch. vom 26. August 2014 in Höhe von 3.029,14 EUR auferlegt.
Nach § 192 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.
In der Gesetzesbegründung (Bundestags-Drucksache 16/7716, Seite 23) finden sich dazu folgende Erwägungen: “Teilweise werden Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen oder nur unzureichend betrieben und müssen im Sozialgerichtsverfahren nachgeholt werden. Dies führt zu einer Verzögerung des Rechtsstreits. Gleichzeitig findet eine Kostensteigerung statt, da die Ermittlungen im gerichtlichen Verfahren - beispielsweise durch Einschalten externer Gutachter - teurer sind. Schließlich findet auch eine Kostenverlagerung von den Haushalten der Leistungsträger zu den Landesjustizhaushalten statt. Vor diesem Hintergrund soll den Sozialgerichten die Möglichkeit gegeben werden, die Kosten für Ermittlungen, die von der Verwaltung vorzunehmen gewesen wären, dieser aufzubürden. Dies soll unabhängig vom Verfahrensausgang möglich sein. Die Norm hat mangels eines Sanktionsapparates eine eher präventive Wirkung. Sie hat zum Ziel, die Verwaltungen vor dem Hintergrund der möglichen Kostenfolge zu sorgfältiger Ermittlung anzuhalten, die bei den Gerichten zu Entlastungseffekten führt.„
§ 192 Abs. 4 Satz 1 SGG setzt "im Verwaltungsverfahren" unterlassene "erkennbare und notwendige Ermittlungen" voraus. Zeitlich kommt es danach auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens, d.h. den Erlass des Widerspruchsbescheids an. Zu diesem Zeitpunkt müssen die später vom Gericht durchgeführten Ermittlungen "notwendig", d.h. entsprechend der Amtsermittlungspflicht der Verwaltung (§§ 20, 21 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) unverzichtbar gewesen sein; dass sie bloß (möglicherweise) sinnvoll waren, reicht demgegenüber nicht aus. "Erkennbar" waren die Ermittlungen dabei nur dann, wenn sich der Behörde ihre Notwendigkeit ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung bzw. - mangels einer solchen - von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste. Die Verpflichtung der Behörde zur umfassenden Ermittlung der für den Einzelfall bedeutsamen Umstände folgt dabei schon aus dem im Verwaltungsverfahren ebenfalls geltenden Untersuchungsgrundsatz nach § 20 Abs. 1 und 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Das ihr hierzu eingeräumte pflichtgemäße Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts erstreckt sich auf die Wahl der zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Beweismittel (§ 21 Abs. 1 SGB X), zu denen auch die Anhörung von Sachverständigen gehört (§ 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X). Ihr pflichtgemäßes Ermessen verletzt die Behörde dann, wenn sie einen Beweis nicht erhebt, der sich ihr bei vernünftiger Überlegung als für die Entscheidung bedeutsam hätte aufdrängen müssen (von Wulffen in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 21 Rn. 3). Zu ermitteln sind von der Beklagten insoweit alle Tatsachen, für die Entscheidungsfindung in materieller Hinsicht wesentlich sind.
Liegen diese Voraussetzungen vor, erfolgt die Entscheidung über die Auferlegung der Kosten nach billigem Ermessen. Sowohl die Prüfung der Voraussetzungen als auch die Ermessensausübung haben streng bezogen auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die jeweilige konkrete Ermittlungsmaßnahme, zu erfolgen. Insoweit kann für § 192 Abs. 4 SGG nichts anderes gelten als für die anderen Kostenentscheidungen nach §§ 192, 193 SGG, bei denen auch stets a...