Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Altfall. sozialgerichtliches Verfahren. Klagefrist nach Art 23 S 6 ÜberlVfRSchG. Hemmung durch Prozesskostenhilfeverfahren. Beendigung der Hemmung mit Verwerfung der Gegenvorstellung des Beklagten. Übergangsrecht. Möglichkeit der Individualbeschwerde vor dem EGMR. Einhaltung der Klagefrist nach Art 35 Abs 1 MRK. Entschädigung für 12-monatige Überlänge im Berufungsverfahren. Unangemessene Verfahrensdauer. Bedeutung des Rechtsstreits. Zeiten fehlender Verfahrensförderung durch das Gericht
Orientierungssatz
1. Der Ablauf der Klagefrist für eine Entschädigungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer nach Art 23 S 6 ÜberlVfRSchG wird durch ein Prozesskostenhilfeverfahren in entsprechender Anwendung des § 204 Abs 1 Nr 14 BGB gehemmt.
2. Die Hemmung des Fristablaufs für den Kläger endet uU erst mit dem unanfechtbaren Beschluss des Gerichts über die Verwerfung einer Gegenvorstellung des Beklagten.
3. Die bloße (formale) Erhebung einer Beschwerde beim EGMR reicht nicht aus, um nach §§ 198, 199 GVG iVm Art 23 ÜberlVfRSchG einen Anspruch für die lange Dauer abgeschlossener Verfahren auslösen zu können; vielmehr muss die Beschwerde innerhalb der Frist des Art 35 Abs 1 MRK eingelegt worden sein.
4. Zur Anerkennung einer Entschädigung wegen 12-monatiger, nicht mehr zu vertretener Leerlaufzeit im Berufungsverfahren.
Normenkette
GVG § 198 Abs. 1-2, 5 S. 2; ÜGG Art. 23 S. 1; ÜGG Art. 23 S. 6; BGB § 204 Abs. 1 Nr. 14, Abs. 2; EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1, Art. 35 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3
Nachgehend
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, 1.200 Euro an den Kläger samt 5 % Zinsen hieraus über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt 2/3 und der Beklagte 1/3 der Kosten des Rechtsstreits.
Der Streitwert wird auf 3.600 Euro festgesetzt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über Schadensersatz wegen der unangemessenen Dauer des Verfahrens S 13 AL 118/98 vor dem Sozialgericht Gotha und dem Verfahren L 3 AL 229/00 bzw. L 10 AL 100/10 ZVW vor dem Thüringer Landessozialgericht.
Der im Jahre 1965 geborene Kläger ist von Beruf Diplom-Physiker und qualifizierte sich durch Prüfungszeugnis der IHK im Jahre 1992 zum Versicherungskaufmann. Im März 1995 beantragte er bei der Agentur für Arbeit S. (im Folgenden nur AA) die Erstattung der Kosten für einen angeschafften PKW in Höhe von 2.400 DM, der von der IHK erhobenen Prüfungskosten in Höhe von 140 DM und Benzinkosten anlässlich der An- und Abreise vom Prüfungstermin in Höhe von 40 DM. Mit Bescheid vom 30. September 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheid 12. Dezember 1997 lehnte die AA den Antrag ab.
Mit der Klage S 13 AL 118/98 wandte sich der Kläger gegen die Bescheide der AA.
Nach Eingang der Klage am 8. Januar 1998 leitete die Vorsitzende die Klageschrift am 16. Januar 1998 an die AA zur Stellungnahme weiter und forderte deren Akten an. Nach Eingang der Klageerwiderung verfügte das Gericht am 5. März 1998 die Weiterleitung an den Kläger zur Stellungnahme. Dessen Erwiderung leitete die Vorsitzende unter dem 15. April 1998 zur Kenntnisnahme weiter und legte Wiedervorlage auf 1. Juni 1998. Mit Schreiben vom 15. Juni 1998 hörte sie die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 SGG an. Die Stellungnahme des Klägers übersandte das Gericht der AA am 6. Juli 1998 zur Kenntnis und legte Wiedervorlage auf den 15. August 1998. Im weiteren Verlauf wurde Wiedervorlage auf den 15. September 1998 und 15. Oktober 1998 verfügt. Mit Schreiben vom 5. November 1998 wies das Gericht den Kläger darauf hin, dass die Klage bezüglich der Prüfungs- und Benzinkosten unzulässig sei. Insoweit liege bereits ein klageabweisendes und rechtskräftiges Urteil des Sozialgerichts Gotha vor. Die Stellungnahme des Klägers - hier regte er zum wiederholten Male einen Abschluss des Verfahrens durch Vergleich an - leitete die Vorsitzende am 24. November 1998 an die AA zur Kenntnis weiter und verfügte Wiedervorlage auf den 15. Januar 1999. An diesem Tag teilte sie dem Kläger mit, dass sie für einen Vergleich keinen Raum sehe. Die Bescheide seien rechtmäßig. Ein Vergleichsvorschlag ihrerseits werde nicht erfolgen. Nach Eingang der Antwort des Klägers - auch hier wies er auf die Möglichkeit einer vergleichsweisen Regelung hin - setzte die Vorsitzende Wiedervorlage auf den 15. März 1999. Im weiteren Verlauf erhielt sie Kenntnis vom Beschluss des AG I. vom 25. Juni 1999 - XVIII 41/97, mit welchem der Kläger für die Dauer von zwei Jahren wegen einer wahnhaften Störung u. a. bei der Regelung von Behördenangelegenheiten unter Betreuung gestellt wurde. Daraufhin fragte sie am 15. März 1999 bei der Betreuerin an, ob diese den Rechtsstreit fortführe, verwies erneut auf die Unzulässigkeit der Klage hinsichtlich der Prüfungs- und Benzinkosten s...