Entscheidungsstichwort (Thema)

Kostenerstattung für eine Immunglobulin-Therapie bei atypischem Gesichtsschmerz

 

Orientierungssatz

1. Fehlt einem Fertigarzneimittel die arzneimittelrechtliche Zulassung zur Therapie einer bestimmten Funktionsstörung, so kommt eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse in Betracht, wenn die Voraussetzungen des off label use erfüllt sind.

2. Hierzu ist erforderlich, dass es um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.

3. Es liegen bisher keine wissenschaftlichen Erkenntnisse aus sog. Phase-Drei-Studien darüber vor, dass mit Immunglobulinen ein Behandlungserfolg bei einer Schmerzsymptomatik erzielt werden kann.

4. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse unter dem Gesichtspunkt des sog. Seltenheitsfalles ist ausgeschlossen, weil es sich bei dem atypischen Gesichtsschmerz um eine erforschbare Erkrankung handelt.

5. Eine Kostenübernahme unter dem Gesichtspunkt der verfassungskonformen Auslegung leistungsbeschränkender Vorschriften des SGB 5 kommt nur dann in Betracht, wenn eine notstandsähnliche Situation vorliegt. Diese setzt einen voraussichtlich tödlichen Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren Zeitraumes voraus. Das ist bei dem sog. atypischen Gesichtsschmerz nicht der Fall.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 16. Februar 2004 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Kostenübernahme durch die Beklagte für weitere Behandlungen mit Immunglobulinen streitig.

Die bei der Beklagten versicherte Klägerin leidet an einer ausgeprägten Schmerzkrankheit mit rechtsseitigem atypischen Gesichtsschmerz. Verschiedene durchgeführte Behandlungen, unter anderem Rehabilitationsmaßnahmen in den Jahren 1996 und 1999, brachten keinen Erfolg. Seit 1994 erhielt sie regelmäßig eine Immunglobulin-Therapie in der Schmerzambulanz der Universitätsklinik W. Die Kosten hierfür übernahm die Beklagte, und zwar bis 31. Oktober 2001.

Am 6. November 2001 beantragten die Ärzte der Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie der Universität W. die weitere Kostenerstattung für die Behandlung eines persistierend neuropathischen Gesichtsschmerzes bei der Klägerin mit den polyvalenten Immunglobulinen Sandoglobulin® und Flebogamma®. Die Beklagte holte daraufhin ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Thüringen (MDK) vom 27. November 2001 nach Aktenlage ein. Nach Auffassung des Gutachters erfolge der Einsatz des Medikaments außerhalb der zugelassenen Indikationen. Alternativ werde auf die üblichen, zugelassenen schmerztherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten verwiesen. Mit Bescheid vom 5. Dezember 2001 lehnte die Beklagte die weitere Kostenübernahme ab. Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch holte die Beklagte ein weiteres MDK-Gutachten vom 9. Januar 2002 ein, wonach trizyklische Antidepressiva Mittel der ersten Wahl zur Behandlung des chronischen atypischen Gesichtsschmerzes seien. Als weitere Therapieoptionen wurden Antikonvulsiva und der Besuch eines Schmerztherapeuten in Wohnortnähe empfohlen. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit ihrer am 12. März 2002 vor dem Sozialgericht Meiningen (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin im Wesentlichen geltend gemacht, bei ihr sei ein Immunmangelsyndrom nachgewiesen worden. Durch die Behandlung mit Immunglobulinen sei eine dauerhafte Besserung des Schmerzsyndroms erreicht worden. Die Wirksamkeit dieser Therapie sei durch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien nachgewiesen. In der Schmerztherapie sei es häufig üblich, ein ansprechendes Medikament durch Experiment zu finden. Darüber hinaus liege im vorliegenden Fall die Voraussetzungen eines Off-Label-Use im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vor.

Auf Anfrage hat das Paul-Ehrlich-Institut mit Schreiben vom 14. März 2003 die zugelassenen Indikationen für die Immunglobuline Sandoglobulin® und Flebogamma® mitgeteilt. Das SG hat sodann einen Befundbericht des behandelnden Schmerztherapeuten Prof. Dr. S. vom 9. April 2003 eingeholt, wonach bei der Klägerin keine Immunmangelkrankheit, sondern eine funktionelle Störung im Immunsystem vorliegt. Die Erweiterung der Zulassung von Immunglobulinpräparaten für die Indikation "chronische idiopathische Schmerzsyndrome" habe bisher mangels Interesses der Hersteller an zulassungsorientierten Studien nicht betrieben werden können. Eine derartige Studie sei aber nun geplant. Die vom MDK aufgezeigten Behandlungsalternativen zeigten entweder keine Wirkung oder seien mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden gewesen.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 16. Februar 2004 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte die Kosten für e...

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