Entscheidungsstichwort (Thema)

Beschädigtenversorgung wegen der gesundheitlichen Folgen einer in der DDR zu Unrecht verbüßten Freiheitsstrafe

 

Orientierungssatz

1. Die Aufhebung eines Strafurteils im Beitrittsgebiet als rechtsstaatswidrig begründet einen Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen u. a. in Form einer Beschädigtenversorgung. Ein Betroffener, der infolge einer rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG.

2. Schädigender Vorgang, Primärschaden und Schädigungsfolge bedürfen als anspruchsbegründende Tatsachen des Vollbeweises. Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge der Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges.

3. Wird eine Verschlechterung des Hörvermögens durch die Bedingungen der Haft als Schädigungsfolge geltend gemacht, so sind zu deren Anerkennung Audiogramme sowohl aus der Zeit unmittelbar vor als auch unmittelbar nach der Inhaftierung erforderlich. Andernfalls ist der notwendige Kausalzusammenhang zwischen Haft und Gehörschaden nicht zu belegen.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Altenburg vom 27. September 2005 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die 1955 geborene Klägerin begehrt Beschädigtenversorgung wegen Schwerhörigkeit nach einer in der DDR zu Unrecht verbüßten Freiheitsstrafe.

Sie litt bereits während ihrer Kindheit an chronischer Mittelohrentzündung. 1965 (nach anderer Angabe 1967) wurde deswegen am linken Ohr eine Radikal-Operation durchgeführt. Eine weitere Operation erfolgte 1973 (nach anderer Angabe 1975) am rechten Ohr.

Vom 10. Mai bis 18. Dezember 1972 war die Klägerin aufgrund eines Urteils des Kreisgerichts Saalfeld vom 21. August 1972 wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts inhaftiert. Dieses Urteil wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Gera vom 14. Januar 1993 aufgehoben; die Klägerin wurde rehabilitiert.

Im April 2002 beantragte sie bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung. Während der Haftzeit habe sie die wegen des vorbestehenden Ohrenleidens erforderliche regelmäßige Behandlung nicht erhalten. Die Schwerhörigkeit habe sich deswegen verschlimmert. Sie sei noch heute deshalb in Behandlung.

Der Beklagte zog Befundberichte von dem früher behandelnden HNO-Arzt Dr. F. sowie dem Facharzt für HNO Dr. C. bei. Nachfragen bei der HNO-Klinik der S. Klinikum gGmbH W. zu der Operation 1973 (bzw. 1975) sowie dem Gesundheitsamt P. und dem Landratsamt S. wegen Unterlagen über die Klägerin aus dem Jahr 1972 blieben erfolglos. Von dem befragten Bundesarchiv wurden Kopien aus der Zentralen Gefangenenkartei des Archivbestandes DO 1 Ministerium des Innern der DDR über die Klägerin übersandt; Gerichts- oder Strafvollzugsakten oder Belege über Arbeits- und Krankheitszeiten waren dort nicht vorhanden. Ebenso konnte die Justizvollzugsanstalt (JVA) G. nur die Gefangenenkarteikarte übersenden; andere Unterlagen seien dort nicht vorhanden, weil die Klägerin während der Haftzeit in die damalige Strafvollzugsanstalt H. verlegt worden sei. In deren nach Schließung dieser Einrichtung von der JVA P. verwalteten Archiv wurden keinerlei Unterlagen der Klägerin gefunden.

Sodann gab der Beklagte ein Gutachten bei der Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Dipl.-Med. H. in Auftrag. Diese diagnostizierte eine chronische Mittelohrentzündung beidseits mit Zustand nach Radikaloperation beidseits, eine hochgradige, an Taubheit grenzende kombinierte Schwerhörigkeit rechts, eine mittelgradige überwiegende Innenohrschwerhörigkeit links mit Hörgeräteversorgung sowie eine ständig auftretende Sekretion. Die Entstehung der Krankheit sei konstitutionell bedingt, was auch die entscheidende Rolle für den Verlauf (wiederkehrende Ohrsekretion, Operationsnotwendigkeit) spiele. Eine Nichtbehandlung während der Inhaftierung sei sicher ungünstig für den Krankheitsverlauf gewesen; es könne jedoch eine mit ausreichender Sicherheit anzunehmende Verschlimmerung nicht nachgewiesen werden. Zum einen fehlten hierfür die dazu notwendigen Audiogramme aus früherer Zeit, zum anderen könne aus fachlicher Sicht der Verlauf der Erkrankung oftmals nur schwer beeinflusst werden. Ob das Gehör heute besser wäre, wenn während der Inhaftierung eine Behandlung erfolgt wäre, sei nicht mit ausreichender Sicherheit feststellbar und fachlich nicht begründbar.

Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 17. November 2003 den Antrag der Klägerin ab. Ihren Widerspruch wies er mit Widerspruchsbescheid vom 5. April 2004 zurück.

Dagegen hat die Klägerin bei dem Sozialgericht (SG) Altenburg Klage erhoben und vorgetragen, es bestehe ein kausaler Zusammenhang zwischen der Inhaftierung und der Verschlimmerung ihres Krankheitsbildes. Die Behandlung durch einen Facharzt in dem Inhaftierungszeitraum hätte einen d...

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