Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aufrechnung eines Erstattungsanspruchs des Jobcenters mit laufenden Ansprüchen des Leistungsberechtigten. Voraussetzungen. Aufrechnungslage. Fälligkeit der Gegenforderung. Bestandskraft des Erstattungsbescheids oder Anordnung der sofortigen Vollziehung. Aufrechnungsverfügung zeitgleich innerhalb eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids. Widerspruchsfrist
Orientierungssatz
1. Da der Widerspruch gegen einen Erstattungsbescheid gemäß § 86a Abs 1 SGG aufschiebende Wirkung hat und kein Fall des § 39 SGB 2 vorliegt, kann mit der Forderung aus einem Erstattungsbescheid nur aufgerechnet werden, wenn dieser bestandskräftig geworden ist oder der Leistungsträger die sofortige Vollziehung nach § 86a Abs 2 Nr 5 SGG angeordnet hat.
2. Hat das Jobcenter zeitgleich über die Erstattungsforderung sowie die Aufrechnung entschieden, fehlt es dem Erstattungsbescheid aufgrund der noch laufenden Widerspruchsfrist ( § 84 Abs 1 S 1 SGG) an der Bestandskraft.
Tenor
für Recht erkannt:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 07. November 2022 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerinnen wenden sich gegen eine Aufrechnungsverfügung.
Mit Schreiben vom 01. Juli 2021 (Bl. 38 ff. d. VwA.) hörte der Beklagte die Klägerinnen zur beabsichtigten Aufhebung von bewilligten Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und zur beabsichtigten Aufrechnung mit laufenden Leistungen an.
Mit Bescheid vom 27. Juli 2021 (Bl. 63 ff. d. VwA.) hob der Beklagte hinsichtlich der Klägerin zu 1) die Bewilligungsentscheidungen für März 2021 bis Juli 2021 teilweise und hinsichtlich der Klägerin zu 2) für März 2021 teilweise sowie für April bis Juli 2021 ganz auf und forderte von der Klägerin zu 1) die Erstattung eines Betrages in Höhe von EUR 113,15 sowie von der Klägerin zu 2) in Höhe von EUR 209,85.
Zugleich verfügte der Beklagte gegen die Klägerin zu 1) die Aufrechnung des überzahlten Betrages in monatlicher Höhe von EUR 113,15 ab 01. September 2021, hinsichtlich der Klägerin zu 2) erging unter Fristsetzung eine Zahlungsaufforderung.
Gegen den Bescheid erhoben die Klägerinnen am 24. August 2021 getrennte Widersprüche, nämlich einmal gegen die Entscheidung über Aufhebung und Erstattung (Bl. 72 f. d. VwA) sowie gegen die verfügte Aufrechnung (Bl. 74 f. d. VwA.).
Aufgrund der Widersprüche verfügte der Beklagte am 25. August 2021 die Einstellung der Aufrechnung und die Auskehrung des für September 2021 bereits einbehaltenen Betrages (Bl. 80 d. VwA.).
Beide Widersprüche wurden mit Widerspruchsbescheid vom 26. November 2021 (Bl. 13 ff. d. A.) zurückgewiesen.
Gegen die Bescheide erhoben die Klägerinnen am 21. Dezember 2021 Klage zum Sozialgericht, mit der sie die Aufhebung der angefochtenen Bescheide im Hinblick auf die Aufrechnungserklärung begehrten.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 07. November 2022 den Aufrechnungsbescheid vom 27. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 2021 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, die Aufrechnung setze eine bestandskräftige Erstattungsforderung voraus.
Die Berufung wurde zugelassen.
Gegen das am 17. November 2022 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, die am 15. Dezember 2022 beim Landessozialgericht eingegangen ist und mit der der Beklagte geltend macht, die Aufrechnung setze keine bestandskräftige Erstattungsforderung voraus. Hinsichtlich der Klägerin zu 2) sei die Klage bereits deshalb unbegründet, weil diesbezüglich keine Aufrechnung erklärt worden sei.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 07. November 2022
aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bestreiten den Zugang des Anhörungsschreibens. Bezüglich der Klägerin zu 2) habe das Sozialgericht den Sachverhalt wohl falsch erkannt. Gleichwohl sei ein Rechtsschutzinteresse des Beklagten bezüglich der Klägerin zu 2) fraglich. Ihr gegenüber sei eine Aufrechnung nicht erklärt worden. Wenn der Beklagte keine Aufrechnung gegen die Klägerin zu 2) gewollt habe, brauche er sich auch nicht gegen die Aufhebung der Aufrechnung zur Wehr setzen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der geheimen Beratung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist nach Zulassung durch das Sozialgericht, an die der Senat gebunden ist ( § 144 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG), ohne Rücksicht auf die Beschwer statthaft. Sie wurde auch form- und fristgerecht erhoben.
Die Berufung ist hinsichtlich der Klägerin zu 1) auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch insoweit unbegründet.
Die Voraussetzungen für die Aufrechnung nach § 43 SGB II lagen nicht vor. Dabei kann offenbleiben, ob die...