§ 135 Abs. 1 SGB V regelt die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Rahmen der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung durch den G-BA. Neue Methoden dürfen erst dann zulasten der GKV erbracht werden, wenn der G-BA eine positive Empfehlung abgegeben hat (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Die Empfehlungen sind für Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte verbindlich. Ausnahmen gelten bei einem Systemversagen oder wenn sich um sehr seltene singuläre oder aber lebensbedrohliche bzw. im Regelfall tödlich verlaufende Erkrankungen handelt.
1.2.1 Systemversagen
Das Bundessozialgericht hat in ständiger Rechtsprechung erkannt, dass vom Erlaubnisvorbehalt der MVV-RL abzuweichen ist, wenn ein Systemversagen festzustellen ist. Dann ergibt sich trotz fehlender Empfehlung ein Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse.
Ein Systemversagen ist anerkannt, wenn
- der G-BA untätig ist und ein Verfahren nicht, nicht fristgerecht oder nicht ordnungsgemäß durchführt wurde und
- es auf eine objektiv willkürliche oder sachfremde Untätigkeit oder Verfahrensverzögerung zurückzuführen ist oder
- ein Beschluss des G-BA gegen höherrangiges Recht verstößt.
In solchen Fällen ist die in § 135 Abs. 1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der MVV-RL rechtswidrig unterblieben.
Kostenerstattung
Versicherte haben einen Anspruch auf Kostenerstattung gegen ihre Krankenkasse, wenn Qualität und Wirtschaftlichkeit der aufgrund des Systemversagens selbst beschafften Maßnahme dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen, der sich in zuverlässigen wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen niedergeschlagen hat.
1.2.2 Seltenheitsfall
Vom Erlaubnisvorbehalt der Richtlinien ist auch in einem Seltenheitsfall abzuweichen. Kosten einer selbst beschafften Leistung sind zu erstatten. Ein Seltenheitsfall setzt voraus, dass eine Krankheit weltweit nur extrem selten auftritt und deshalb im nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann.
1.2.3 Lebensbedrohliche Erkrankungen
Versicherte, die an einer
- lebensbedrohlichen Erkrankung,
- regelmäßig tödlichen Erkrankung oder
- wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung
leiden, können Leistungen beanspruchen, die nicht als Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden durch den G-BA zugelassen sind. Es muss eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen. Die Leistung ist vor dem Beginn der Behandlung zu beantragen. Die Krankenkasse erklärt die Kostenübernahme.
Die durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien sind damit gesetzlich klargestellt. Der Leistungsanspruch ist auf der neuen Rechtsgrundlage gerichtlich nachprüfbar. Ggf. ergibt sich ein Anspruch auf Kostenerstattung aufgrund einer unaufschiebbaren Leistung.
Sozialstaatsprinzip
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat es mit den Grundrechten und dem Sozialstaatsprinzip für nicht vereinbar gehalten, einen gesetzlich Krankenversicherten von einer Behandlungsmethode auszuschließen, weil für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht.
Der über den Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehende Leistungsanspruch orientiert sich an den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Die Grundrechte verpflichten die Krankenkassen in besonderen Fällen zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der Vorschriften des Krankenversicherungsrechts. Daraus ergibt sich ein Anspruch auf Leistungen über den gesetzlich geregelten Rahmen hinaus. Dies gilt insbesondere in den Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung.