Entscheidungsstichwort (Thema)
§ 35 a SGB VIII und Legasthenietherapie. Aufgabenwahrnehmung: Auslagerung. Behinderung, seelische. Freier Träger der Jugendhilfe. ICD-10. Klassifikationsschema. Legasthenie. Rechtschreibstörung, isolierte. Weiterbewilligungsantrag
Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an die Feststellung einer seelischen Behinderung im Fall einer isolierten Rechtschreibstörung
Normenkette
SGB IX 14 V; SGB VIII 2 II; SGB VIII 3 II; SGB VIII 35a I Nr. 1; SGB VIII 69 IV; SGB VIII 76 I
Tatbestand
Der Kläger ist am … geboren. Er hat zwei ältere Geschwister, die einen Realschulabschluss haben. Im Alter von 4 ½ und knapp 6 Jahren erhielt er Sprachtherapie. Zum Schuljahr 2001/2002 wurde er in die Grundschule R. eingeschult, die er auch derzeit noch besucht; er wiederholt die 4. Klasse.
Bereits in der ersten Klasse zeigten sich Probleme beim Lesen und Schreiben. Im August, September und November 2002 untersuchte die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin S. von der Erziehungsberatungsstelle des Beklagten den Kläger und führte mit ihm mehrere Tests durch. Sie attestierte eine schwere Legasthenie mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen infolge der Legasthenie. Eine wesentliche seelische Behinderung als Folge der Legasthenie sei mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Eine besondere schulische Förderung erhielt der Kläger seinerzeit noch nicht, weil nach Auskunft der Schule Förderkinder nach Einführung der verlässlichen Grundschule nicht aus dem Unterricht herausgenommen werden könnten.
Daraufhin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Februar 2003 dem Kläger auf den Antrag seiner Eltern hin Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte nach § 35 a SGB VIII im Umfang von 40 Stunden für die Kosten einer Legastheniebehandlung. Diese Behandlung begann der Kläger am 17. Juni 2003 zunächst bei der Logopädin Frau T., die den Eltern aus einer früheren logopädischen Behandlung des Klägers bekannt war. Nach 10 Stunden brach er diese Therapie ab und wechselte ab Februar 2004 zur Weiterbehandlung zum Legasthenietherapeuten U.. Dieser erteilte bis zum 19. November 2004 weitere 30 Stunden Legasthenie-Therapie.
Am 15 Dezember 2004 stellten die Eltern des Klägers einen Weiterbewilligungsantrag. Diesem fügten sie einen Entwicklungsbericht zum Stand der systematischen Übungsbehandlung des Therapeuten U. vom 30. Dezember sowie eine psychologische Stellungnahme der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin V. – M.A. – vom 13. Dezember 2004 bei.
Aus dem Entwicklungsbericht ergibt sich, dass der Kläger im März 2004 einen Prozentrang von 1,3 und einen sog. T-Wert von 28 erzielt hatte. Im November 2004 betrug der Prozentrang 6 – 12 und der T-Wert 37. Es liege beim Kläger nach wie vor eine schwere Legasthenie vor. Dies werde zwar durch das Ergebnis der normierten Rechtschreibtests nicht ganz deutlich, ergebe sich jedoch aus einem Vergleich mit dem ebenfalls durchgeführten lautgetreuen Bildertest zur Phonemstufe 1 (LBT 1) nach Reuter-Liehr. Hinsichtlich der Lesegenauigkeit habe der Kläger einen deutlichen Fortschritt erzielt, was jedoch auf Kosten der Zeit gehe. Er habe sich sehr gekränkt gezeigt, als eine Mitschülerin ihn gefragt habe, ob er denn immer noch nicht lesen und schreiben könne und immer noch zur Therapie müsse. Laut Aussage seiner Klassenlehrerin sei er frustriert über seine schlechten Lese- und Rechtschreibleistungen. Er gebe dann sehr schnell auf und müsse ermutigt werden. Im Ergebnis hielt der Therapeut fest, es seien noch ca. 10 bis 12 Stunden notwendig, um den Phonemstufenbereich abschließen zu können. Danach könne er in den Regelbereich überwechseln, wobei es wichtig sein werde, ihm einerseits noch mehr Sicherheit hinsichtlich seiner Fortschritte zu vermitteln, andererseits ihn dahin zu motivieren, die Steuerungsstrategien der Therapie auch in der Schule und im Alltag umzusetzen. Deshalb bat der Therapeut, dem Antrag der Eltern des Klägers auf Verlängerung der Therapie um weitere 40 Stunden stattzugeben.
Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin V. führte mit dem Kläger den Rechtschreibtest DRT IV durch. Ausweislich ihrer Stellungnahme vom 13. Dezember 2004 erreichte der Kläger dabei einen Prozentrang von 6 – 12 (mittlerer T-Wert 37, T-Wert-Band 35 – 38). Gleichzeitig unterzog sie ihn einem Intelligenztest nach CFT 20. Die danach vorgenommene Gesamtauswertung ergab einen IQ von 86, wobei er im Testteil 1 einen IQ von 87 und im Testteil 2 einen solchen von 91 erreichte. Dies entspricht einem T-Wert von 40/41. Die Therapeutin äußerte die Befürchtung, dass aufgetretene Konzentrationsschwächen des Klägers allgemeine Lern- und Leistungsfähigkeiten beeinträchtigten und sich somit auch negativ auf die Teilleistungen Lesen und Schreiben auswirkten. Sie diagnostizierte eine isolierte Rechtschreibstörung nach ICD-10 (F 81.1) und empfahl, die Legasthenie-Therapie für die Dauer von 40 Behandlungseinheiten fortzusetzen. Ohne qualifizierte therapeutische Maßnahmen sei davon auszugehen, dass eine seelis...