Hausgebärdensprachkurs als Leistung zur sozialen Teilhabe
Eltern beantragen für ihre vierjährige Tochter einen Hausgebärdensprachkurs
Ein vierjähriges Mädchen kann aufgrund einer Sprachentwicklungsstörung - ohne sprachrelevante Hörstörung - nicht intuitiv die Zunge nach links, rechts oder oben bewegen.
Es kann daher nur wenige Wörter verständlich aussprechen. Die Eltern des Mädchens beantragten für ihre Tochter einen Hausgebärdensprachkurs im Umfang von 6 Stunden wöchentlich. Das Sprechvermögen befinde sich auf dem Stand eines 2,5-jährigen Kindes, während das Wortverständnis einem fünfjährigen Kind entspreche. Dadurch fühle sie sich nicht verstanden und reagiere häufig sehr aggressiv gegenüber vertrauten Personen.
Zudem werde sie im kommenden Jahr eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache und Gehör, in welcher teilweise in Gebärden unterrichtet werde, besuchen.
Schließlich habe das Jugendamt den Eltern einen Gebärdensprachkurs unter der Voraussetzung bewilligt, dass dem Kind ein entsprechender Kurs gewährt werde.
Stadt lehnt Antrag auf Hausgebärdensprachkurs ab
Die Stadt Kassel lehnte den Antrag ab. Ein Förderkonzept aus einer intensiven logopädischen Behandlung mit Unterstützter Kommunikation, einer Kindergartenintegrationsmaßnahme sowie einer interdisziplinären Frühförderung verspreche mehr Erfolg. Das Erlernen der Gebärdensprache sei hingegen kontraproduktiv und überfordere das Kind.
Da im Kindergarten die Lautsprache mit Unterstützter Kommunikation geübt werde, könne die Gebärdensprache zudem dort nicht genutzt werden.
Landessozialgericht verpflichtet Behörde zur vorläufigen Leistung
Im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtete das Landessozialgericht die Stadt Kassel vorläufig, einen Hausgebärdensprachkurs im Umfang von vier Förderstunden pro Woche als Eingliederungshilfe zu gewähren. Maßnahmen der Eingliederungshilfe sollten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern. Dabei sollten Kontakte auch zu nicht behinderten Menschen - und zwar nicht nur zu nahestehenden Personen wie Familienangehörigen - gefördert werden. Art und Maß der entsprechenden Aktivitäten seien abhängig von den individuellen Bedürfnissen. Ob ein Anspruch bestehe, richte sich deshalb nach den Gegebenheiten des Einzelfalls.
Gebärdensprache als weiteres Kommunikationsmittel zur Abmilderung psychischer Belastungen
Das vierjährige Kind sei aufgrund einer Sprachentwicklungsstörung wesentlich in seiner Teilhabefähigkeit eingeschränkt. Nach den ärztlichen Stellungnahmen stoße das Mädchen mit der Mundmuskulatur an seine Grenzen. Um die psychische Belastung für das Kind abzumildern, sei es äußert wichtig, als weiteres Kommunikationsmittel die Gebärdensprache zu erlernen. Nach den Angaben der behandelnden Logopädin lernten viele Kinder durch das Kommunizieren mit Gebärden schneller Sprechen. Auch die Unterstützte Kommunikation arbeite nicht nur mit körperfernen, sondern vielmehr auch mit körpereigenen Kommunikationsformen (Gestik, Mimik, Körperhaltung und Gebärden).
Gebärdendolmetscher als weitere Leistung der Eingliederungshilfe
Daher sei für das Gericht nicht nachzuvollziehen, weshalb das (ergänzende) Erlernen der Gebärdensprache – im Gegensatz zu Unterstützter Kommunikation - die Sprachentwicklung hemmen solle. Unbeachtlich sei, dass im Kindergarten derzeit die Gebärdensprache nicht genutzt werde. Im Rahmen der Eingliederungshilfe könnten auch Assistenzleistungen beansprucht werden, die – soweit geeignet und erforderlich – auch einen Gebärdendolmetscher bzw. eine Sprachassistenz umfassen könnten. Im bereits anhängigen Klageverfahren, in welchem endgültig über den Anspruch entschieden werde, könne eine weitere Sachaufklärung durch ein Sachverständigengutachten erfolgen.
Hinweis: Hessisches Landessozialgericht, Beschluss v. 22.12.2021, L 4 SO 218/21 B ER
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