BMF, Schreiben v. 8.8.1991, IV A 5 - S 0350 - 22/91, BStBl I 1991, 793
Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der neuen Bundesländer und des Landes Berlin gilt für die Anwendung des Artikels 19 des Einigungsvertrages folgendes:
1. Bedeutung von Artikel 19 des Einigungsvertrages
Artikel 19 des Einigungsvertrages lautet:
"Vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik bleiben wirksam. Sie können aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit Regelungen dieses Vertrages unvereinbar sind. Im übrigen bleiben die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt."
Steuerverwaltungsakte der ehemaligen DDR haben danach grundsätzlich Bestand. Das gilt auch, wenn sie gemessen an dem zugrundeliegenden Steuerrecht fehlerhaft sind.
Für die Aufhebung nach Artikel 19 Satz 2 des Einigungsvertrages ist Voraussetzung, daß die Steuerverwaltungsakte mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des Einigungsvertrages unvereinbar sind, wobei jedoch die "Regelungen des Einigungsvertrages" für die Beurteilung von Steuerverwaltungsakten der ehemaligen DDR keine eigenständige Bedeutung haben. Die Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde. Dies gilt unabhängig davon, ob nach abgabenrechtlichen Vorschriften Verjährung eingetreten ist. Der Eintritt der Verjährung kann nur im Rahmen der Ermessensentscheidung berücksichtigt werden.
2. Verhältnis zu abgabenrechtlichen Vorschriften
Die Bestimmungen der Abgabenordnung über die Änderung und Aufhebung von Steuerverwaltungsakten (§§ 129,130,131,172 ff. AO), die nach Artikel 97 a § 2 Nr. 4 EGAO in der Fassung des Einigungsvertrages (Anlage 1, Kapitel IV, Sachgebiet B, Abschnitt II, Nr. 7) auch auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der ehemaligen DDR anzuwenden sind, bleiben unberührt.
Für Steuern, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts entstanden sind, sind die Vorschriften der Abgabenordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 22.6.1990 (GBl Sonderdruck Nr. 1428) sowie des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 22.6.1990 (GBl Sonderdruck Nr. 1428) über die Verjährung und über die Ausschlußfristen weiter anzuwenden, soweit sie für die Festsetzung einer Steuer, Steuervergütung oder steuerlichen Nebenleistung für die Aufhebung oder Änderung einer solchen Festsetzung oder für die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen von Bedeutung sind (Artikel 97 a § 2 Nr. 5 EGAO in der Fassung des Einigungsvertrages). Nach Verjährungseintritt ist also eine Aufhebung nach den Vorschriften der Abgabenordnung nicht mehr möglich.
3. "Rechtsstaatliche Grundsätze" im Sinne von Artikel 19 Satz 2 des Einigungsvertrages
Die Einführung des Maßstabes der "rechtsstaatlichen Grundsätze" in Artikel 19 Satz 2 des Einigungsvertrages bedeutet nicht, daß Verwaltungsentscheidungen der ehemaligen DDR am Maßstab des Rechtsstaates in seiner konkreten Ausprägung, wie er sie durch die Regelungen des Grundgesetzes gefunden hat, zu messen sind. Die Parteien des Einigungsvertrages beabsichtigten nicht, sämtliche Elemente des Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes auf ein anderes System zu übertragen. Von diesem Rechtsgedanken haben sie sich auch bei der Regelung der Voraussetzungen, denen fortgeltendes Recht der ehemaligen DDR bzw. neu zu schaffendes Recht gem Artikel 4 Nr. 5 (1) des Einigungsvertrages entsprechen muß, leiten lassen.
Steuerverwaltungsakte, die auf Bestimmungen des Steuerrechts der ehemaligen DDR beruhen, können demnach nicht aufgehoben werden. wenn sie elementaren Anforderungen an Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit genügen. Dies gilt auch, wenn im Einzelfall hohe Steuerbelastungen entstanden sind. die sich z.B. bei Anwendung des Einkommensteuergrundtarifs K gem § 32 EStG-DDR vom 18.9.1970 (GBl Sonderdruck Nr. 670) oder bei Anwendung der Vorschriften zur Berechnung der Erbschaftsteuer gem. §§ 9 ff. ErbStG-DDR vom 18.9.1970 (GBl Sonderdruck Nr. 678) ergeben können (vgl. Urteil des BGH vom 22.9.1988, IX ZR 263/87, NJW 1989 S. 1352).
Auch die Tatsache, daß eine gerichtliche Überprüfung von Steuerverwaltungsakten bis zum 30.6.1990 in der ehemaligen DDR nicht möglich war, rechtfertigt für sich allein die Änderung von Steuerfestsetzungen nach Artikel 19 Satz 2 des Einigungsvertrages nicht. Artikel 19 Satz 2 des Einigungsvertrages soll nicht nachträglich einen Ersatz für eine früher - wie den Parteien des Einigungsvertrages bekannt war - nicht mögliche gerichtliche Überprüfung einführen.
Eine Aufhebung von Steuerverwaltungsakten der ehemaligen DDR kommt in Betracht, wenn das Steuerrecht nachweislich willkürlich und im Ergebnis unrichtig angewendet worden ist, z. B. um einen politisch Andersdenkenden nur wegen seiner Gesinnung zu verfolgen. einen wirklichen oder vermeintlichen Gegner des herrschenden Systems wegen einer abfälligen Äußerung oder seines Eintretens für ...