Vorläufige Festsetzung von Erstattungszinsen möglich?
Für Verzinsungszeiträume bis 31.12.2018 ist das bisherige Recht aber weiter anwendbar (Fortgeltungsanordnung). Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume sei der Gesetzgeber aber verpflichtet, eine Neuregelung bis zum 31.7.2022 zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2019 erstreckt und alle noch nicht bestandskräftigen Hoheitsakte erfasst.
BMF-Schreiben v. 17.9.2021
Die Finanzverwaltung hat daraufhin verfügt (BMF-Schreiben v. 17.9.2021, BStBl 2021 I S. 1759, ergänzt durch BMF-Schreiben v. 3.12.2021, BStBl 2021 I S. 2227), dass sämtliche erstmalige Festsetzungen von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen nach § 233a AO für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 gemäß § 165 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit Satz 2 Nr. 2 und § 239 Abs. 1 Satz 1 AO auszusetzen sind.
Sie werden damit nicht nach § 233a i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO festgesetzt, weil die Vorschrift für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 nicht mehr anwendbar ist. Die ausgesetzte Zinsfestsetzung ist nachzuholen, soweit und sobald die Ungewissheit durch eine rückwirkende Gesetzesänderung beseitigt ist (§ 165 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO). Für Verzinsungszeiträume bis 31.12.2018 anfallende Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen nach § 233a AO sind hingegen - endgültig - festzusetzen.
Vorher: Vorläufigkeit der Zinsfestsetzungen – auch Erstattungszinsen
Vorher wurden die Zinsen gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO i. V. m. § 239 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes von 0,5 Prozent pro Monat festgesetzt. Dies galt auch für Erstattungszinsen. So wurde in den Steuerbescheiden wie folgt erläutert:
"Sollte aufgrund einer diesbezüglichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diese Zinsfestsetzung aufzuheben oder zu ändern sein, wird die Aufhebung oder Änderung von Amts wegen vorgenommen; ein Einspruch ist daher insoweit nicht erforderlich. Abhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts könnte unter Umständen auch eine Aufhebung oder Änderung zu Ihren Ungunsten erfolgen..."
FG Hamburg: Vorläufigkeit (auch) aufgrund § 176 AO nicht möglich
Diese Verfahrensweise hat das FG Hamburg kürzlich für rechtswidrig erklärt ( Urteil vom 14.04.2022 - 1 K 126/20). Nach der Vorschrift des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind. Nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO ist diese Regelung u.a. auch dann anzuwenden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Bundesverfassungsgericht ist.
§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO ist durch das Missbrauchs- und Steuerbereinigungsgesetz vom 21. Dezember 1993 (BGBl 1993 I S. 2310) eingefügt worden. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass Steuerpflichtige nicht gezwungen sein sollen, durch Rechtsbehelfe ihre Fälle offen zu halten, um in den Genuss der Neuregelung bzw. Entscheidung des Gerichts zu kommen. Eine Verschlechterung der Rechtsposition des Steuerpflichtigen sei also nicht angestrebt gewesen, so das FG. Zweck der Vorschrift sei es nicht, der Staatskasse etwaige Vorteile zu sichern, sondern die Finanzverwaltung vor einer Masse von Einsprüchen zu bewahren. Die Finanzbehörde handele dementsprechend ermessensfehlerhaft, wenn sie die Vorläufigkeit anordnet, um eine für den Steuerpflichtigen nachteilige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten zu können.
Die vorläufige Zinsfestsetzung sei aber auch deshalb ermessensfehlerhaft, weil bereits im Zeitpunkt der vorläufigen Festsetzung feststand, dass eine spätere Änderung der Steuerfestsetzung wegen § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ausschied. Nach der Vorschrift darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht.
§ 176 Abs. 1 Satz 1 AO differenziere dabei nicht hinsichtlich der Korrekturvorschriften, so dass er seinem Wortlaut nach auch bei einer Vorläufigkeit zu beachten ist. In systematischer Hinsicht handele es sich bei § 176 Abs. 1 Satz 1 AO um eine Norm, die erst auf zweiter Stufe Anwendung findet. Auf erster Stufe ist zunächst zu prüfen, ob eine Aufhebung oder Änderung überhaupt erfolgen kann. Wenn dies der Fall ist, wird auf zweiter Stufe geprüft, ob der Vertrauensschutz der Aufhebung oder Änderung entgegensteht.
Revisionsverfahren und Gesetzgebungsverfahren
Gegen die Entscheidung des FG Hamburg läuft ein Revisionsverfahren vor dem BFH (Az VIII R 12/22). Wie es mit dem Revisionsverfahren weitergeht, bleibt abzuwarten, weil die Bundesregierung in der Begründung ihres in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachten Gesetzentwurfs zur Änderung der Abgabenordnung vom 30.3.2022 hinsichtlich einer rückwirkenden verfassungsgemäßen Neuregelung des Zinssatzes für Nachzahlungs- und Erstattungszinsen davon ausgeht, dass § 176 AO bei der Umsetzung der neuen Regelungen zum Zinssatz zu beachten ist und sich für den Fall, dass bisher (nur) Erstattungszinsen festgesetzt worden sind, eine Rückforderung aufgrund der rückwirkenden Senkung des Zinssatzes nicht ergeben kann.
Aktualisierung vom 5.8.2022: Mittlerweile wurde mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12.07.2022 bestimmt, dass die Vertrauensschutzregelung in § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nach Art. 97 § 15 Abs. 14 Satz 3 EGAO bei Umsetzung des § 238 Abs. 1a und 1b AO mit der
Maßgabe anzuwenden ist, dass die Zinsen, die sich aufgrund der Neuberechnung der bisher festgesetzten, noch offenen Zinsen ergeben, die vor Anwendung dieser Neuberechnung festgesetzten Zinsen nicht übersteigen dürfen (s. hierzu auch die News "Neuregelung der Vollverzinsung nach § 233a AO"). Hierbei ist wie folgt zu differenzieren:
- Waren bisher nur Erstattungszinsen festgesetzt worden, kann sich aufgrund der rückwirkenden Senkung des Zinssatzes deshalb keine Rückforderung ergeben. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Zinsen bei Inkrafttreten der Neuregelungen vorläufig festgesetzt waren oder nicht.
- Waren bisher nur Nachzahlungszinsen festgesetzt worden, sind diese Zinsen im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten auf Basis des § 238 Abs, 1a und 1b AO neu zu berechnen und eine entsprechend geänderte Zinsfestsetzung zu erlassen.
- In einem Mischfall mit Nachzahlungs- und Erstattungszinsen ist § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO auf das Gesamtergebnis der Neuberechnung anzuwenden.
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