Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Erwerb eines Unternehmens im ganzen bei Übertragung des Eigentums an Sachen durch einen Dritten
Leitsatz (NV)
Die Erwerberhaftung nach § 75 AO 1977 greift nicht ein, wenn das zu den wesentlichen Betriebsgrundlagen gehörende Inventar eines Unternehmens - teilweise - nicht vom veräußernden Unternehmer, sondern von einem Dritten auf den Erwerber übereignet wird.
Normenkette
AO 1977 § 75; FGO § 142; ZPO § 114
Tatbestand
Der Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) wird vom beklagten Finanzamt (FA) als Erwerber eines Unternehmens des I wegen rückständiger Betriebssteuern des I nach § 75 der Abgabenordnung (AO 1977) in Anspruch genommen.
I war Inhaber der beiden Eiscafés A und B in X. Durch Kaufvertrag vom 6. September 1986 erwarb der Kläger von I die Einrichtungsgegenstände der Eisdiele A. Zwei Tage später mietete er das Ladenlokal, das auch zuvor schon von I angemietet, dessen Mietvertrag aber fristlos gekündigt worden war. Der Kaufpreis für die Einrichtungsgegenstände wurde an den Grundstückseigentümer gezahlt, damit dieser auf sein Vermieterpfandrecht wegen Mietschulden des I verzichtete. Die Einrichtungsgegenstände des Eiscafés B erwarb der Kläger am ... von I und dessen Ehefrau. Der Kaufvertrag wurde auf der Verkäuferseite von der Ehefrau des I und von einem Verwandten des I für diesen unterschrieben. Auch diese Einrichtungsgegenstände waren mit dem Pfandrecht der Vermieter (Eigentümer) des Geschäftslokals belastet; zum Teil waren sie auch einer Bank zur Sicherung übereignet. Der Kläger zahlte vereinbarungsgemäß den Kaufpreis für die Gegenstände an die Vermieter bzw. an die Sicherungseigentümerin, damit diese die gekauften Gegenstände freigaben. Auch über das Geschäftslokal des Eiscafés B schloß der Kläger einen Tag nach Abschluß des entsprechenden Kaufvertrages einen Mietvertrag mit den Grundsückseigentümern ab.
Mit dem Haftungsbescheid in der Fassung der Einspruchsentscheidung sah das FA den Erwerb der beiden Eisdielen durch den Kläger als Übereignung des Unternehmens des I im ganzen i.S. von § 75 AO 1977 an und setzte gegen den Kläger als Betriebsübernehmer eine Haftungsschuld in Höhe von ... DM wegen rückständiger Umsatzsteuer und Lohnsteuer des I fest. Der Antrag des Klägers, ihm für seine Klage gegen den Haftungsbescheid Prozeßkostenhilfe (PKH) zu bewilligen und ihm seinen Rechtsanwalt beizuordnen, wurde vom Finanzgericht (FG) wegen fehlender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung abgelehnt. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Der Antrag auf PKH durfte nicht wegen fehlender Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung abgelehnt werden.
1. Nach § 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Unter diesen Voraussetzungen kann den Beteiligten auch ein Rechtsanwalt oder Steuerberater beigeordnet werden (§ 142 Abs. 2 FGO; § 121 ZPO). Die Rechtsverfolgung verspricht hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn bei summarischer Prüfung und Würdigung der wichtigsten Tatumstände der vom Antragsteller begehrte Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. März 1986 III B 5-6/86, BFHE 146, 223, BStBl II 1986, 526 m.w.N., und vom 16. Dezember 1986 VIII B 115/86, BFHE 148, 215, BStBl II 1987, 217).
Der Beurteilung des FG, daß im Streitfall die Erfolgsaussicht der Klage nur gering sei, vermag der Senat nicht zu folgen. Er sieht vielmehr auf der Grundlage der Tatumstände, die das FG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Voraussetzungen für eine Haftung des Klägers als Betriebsübernehmer nach § 75 AO 1977 nicht gegeben sind.
2. Die Haftung des Erwerbers für bestimmte Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge des Veräußerers nach § 75 Abs. 1 AO 1977 setzt voraus, daß diesem ein Unternehmen oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb im ganzen übereignet worden ist. Die Übereignung eines Unternehmens im ganzen bedeutet den Übergang des gesamten lebenden Unternehmens, d.h. der durch das Unternehmen repäsentierten organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen, die dem Unternehmen dienen oder mindestens seine wesentliche Grundlage ausmachen, so daß der Erwerber das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann.
Sofern die für eine Übertragung auf den Erwerber in Betracht kommenden grundlegenden Bestandteile des Unternehmens auch Wirtschaftsgüter umfassen, die nicht im bürgerlich-rechtlichen Sinne übereignet werden können (z.B. Erfahrungen und Geheimnisse, Beziehungen zu Kunden, Lieferern und Mitarbeitern), genügt es, daß die wesentlichen Grundlagen des Unternehmens nur im wirtschaftlichen Sinne übereignet werden, daß also ein eigentümerähnliches Herrschaftsverhältnis an den sachlichen Grundlagen des Unternehmens auf den Erwerber übergegangen ist. Sind z.B. Betriebsräume des übereigneten Unternehmens angemietet oder angepachtet, so ist es für die Haftung des Erwerbers ausreichend, daß er mit dem Vermieter dieser Räume unter Mitwirkung des Veräußerers einen Mietvertrag abschließt (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 75 AO 1977 Tz. 7 und die dort angegebene Rechtsprechung). Gehören dagegen zu den wesentlichen Grundlagen des Unternehmens des Steuerschuldners in dessen Eigentum stehende bewegliche Sachen oder Grundstücke, so müssen diese zur Erfüllung der haftungsbegründenden Voraussetzungen des § 75 AO 1977 nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) an den Erwerber übereignet werden. Wesentlich ist, daß das Unternehmen aus einer Hand in die Hand eines anderen übergeht. Das Eigentum muß vom Betriebsveräußerer auf den Erwerber übertragen werden. Die Übereignung durch einen Dritten oder auf einen Dritten reicht für den Haftungstatbestand auch dann nicht aus, wenn der Dritte dem Erwerber die Nutzung der übertragenen Gegenstände gestattet (vgl. Urteile des Senats vom 16. März 1982 VII R 105/79, BFHE 135, 239, BStBl II 1982, 483; vom 18. März 1986 VII R 146/81, BFHE 146, 492, BStBl II 1986, 589, und vom 19. Januar 1988 VII R 74/85, BFH/NV 1988, 479).
3. Im Streitfall sind FA und FG zu Recht davon ausgegangen, daß das Inventar der beiden Eiscafés und die (gemieteten) Geschäftslokale die wesentlichen Betriebsgrundlagen des vom Kläger erworbenen Unternehmens des I darstellten.
a) Die bei lediglich angemieteten Betriebsräumen für eine Übereignung i.S. des § 75 AO 1977 erforderliche Mitwirkung des Veräußerers am (Neu-)Abschluß des Mietvertrages durch den Erwerber hat das FG darin gesehen, daß diese Mitwirkung dem Kläger wegen der bestehenden Vermieterpfandrechte und Mietrückständen des I von den Vermietern aufgezwungen worden sei, indem diese den Abschluß der Mietverträge von einer Abtretung der Kaufpreisforderung für die Einrichtungsgegenstände durch den I an sie (die Vermieter) abhängig gemacht hätten. Es kann dahinstehen, ob dieser Beurteilung zu folgen ist. Der Erfüllung des Haftungstatbestandes steht jedenfalls nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats entgegen, daß die Einrichtungsgegenstände, die ebenfalls wesentliche Betriebsgrundlagen darstellen, nicht vollständig aus der Hand des Veräußerers I in die Hand des Klägers als Erwerber übergegangen sind.
b) Das FG hat ausgeführt, es komme nicht darauf an, daß offenbar ein Teil des Inventars (der Eisdiele B) der Ehefrau des I gehört habe, denn es sei davon auszugehen, daß die ihr gehörenden Gegenstände zum notwendigen Betriebsvermögen des bisher von I geführten Unternehmens gehört hätten und als solche nunmehr an den Kläger veräußert worden seien. Für die Haftung komme es in einem solchen Falle darauf an, ob der Veräußerer dafür sorge, daß der Eigentümer bei der Übertragung mitwirke. Diese Mitwirkung liege hier vor, weil der für I handelnde Vertreter und die Ehefrau des I den Kaufvertrag gemeinsam unterschrieben hätten.
Das FG verkennt damit, daß die Einrichtungsgegenstände, die zum notwendigen beweglichen Anlagevermögen gehören, von verschiedenen Rechtspersonen, nämlich von I und von der Ehefrau des I, auf den Kläger übereignet worden sind. Schon aus diesem Grunde fehlt es an einem Übergang sämtlicher Betriebsgrundlagen aus einer Hand (derjenigen des I) in eine andere (diejenige des Klägers). Der sachenrechtliche Ausgangspunkt des § 75 AO 1977, der - wie ausgeführt - bei der Eigentumsübertragung für die Anwendung dieser Vorschrift maßgebend ist, liegt nicht vor, weil die Identität des veräußernden Unternehmers hinsichtlich der wesentlichen Betriebsgrundlagen nicht gegeben ist. Wie der Senat entschieden hat, greift die Erwerberhaftung nach § 75 AO 1977 nicht ein, wenn das zu den wesentlichen Betriebsgrundlagen gehörende Inventar eines Unternehmens unmittelbar von einem Dritten auf den Erwerber übereignet wird (vgl. Urteile vom 24. Februar 1987 VII R 163/84, BFH/NV 1987, 750, und in BFH/NV 1988, 479; ebenso Tipke/Kruse, a.a.O., § 75 AO 1977 Tz. 8).
Der vorstehenden Beurteilung steht nicht entgegen, daß grundsätzlich auch im Eigentum Dritter stehende Gegenstände (z.B. bei Sicherungseigentum oder Eigentumsvorbehalt) i.S. von § 75 AO 1977 übereignet werden können, wenn der Erwerber in die Rechte des Veräußerers (z.B. als Sicherungsgeber oder Vorbehaltskäufer) einrückt und wirtschaftlicher Eigentümer (des Sicherungsgutes bzw. Vorbehaltsgutes) wird (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 75 AO 1977 Tz. 8 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Der Streitfall unterscheidet sich von der in derartigen Fällen nach § 75 AO 1977 möglichen Übereignung einer eigentümerähnlichen Rechtsposition durch den Betriebsveräußerer dadurch, daß hier der Kläger nicht lediglich in die Rechtsposition des I als wirtschaftlicher Eigentümer bzw. Nutzungsberechtigter der im zivilrechtlichen Eigentum seiner Ehefrau stehenden Einrichtungsgegenstände - ggf. unter Mitwirkung des I, wie das FG angenommen hat - eingetreten ist, sondern daß ihm von der Ehefrau des I als Dritter das bürgerlich-rechtliche Eigentum - und damit eine andere Rechtsposition als sie der I besaß - an den Gegenständen übertragen worden ist (vgl. Senat in BFH/NV 1988, 479, 480).
c) Das FG ist schließlich, da das Inventar beider Betriebsstätten innerhalb eines Monats veräußert wurde und auch die Mietverträge in diesem Zeitraum abgeschlossen wurden, von einem einheitlichen wirtschaftlichen Erwerbsvorgang und damit von einer Übereignung im ganzen (§ 75 AO 1977) ausgegangen. Dabei hat das FG es als unerheblich angesehen, daß der Kläger beim Erwerb des Eiscafés A noch nicht wußte, daß er auch das Eiscafé B würde erwerben können. Diese Beurteilung erscheint nicht zweifelsfrei. Denn eine Übereignung in mehreren Akten, wie sie im Streitfall nach den Feststellungen des FG in Betracht kommt, ist nach der Rechtsprechung des Senats nur dann als eine Übertragung im ganzen anzusehen, wenn die einzelnen Teilakte in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen und der Wille auf Erwerb des Unternehmens gerichtet ist (so Senat in BFHE 135, 239, BStBl II 1982, 483, 485; Tipke/Kruse, a.a.O., § 75 AO 1977 Tz. 7a). Die zwischen den Beteiligten streitige Rechtsfrage bedarf aber im Streitfall keiner abschließenden Entscheidung. Denn eine hinreichende Erfolgsaussicht für die Klage gegen den gegen den Kläger ergangenen Haftungsbescheid ergibt sich bereits aus den Ausführungen des Senats unter 3. b).
4. Das FG wird bei seiner erneuten Entscheidung prüfen müssen, ob die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers die Gewährung von PKH rechtfertigen. Der Senat sieht davon ab, diese Prüfung selbst vorzunehmen, damit den Beteiligten nicht eine Instanz genommen wird (vgl. BFH-Beschluß in BFHE 148, 215, BStBl II 1987, 217, 219 m.w.N.).
Fundstellen