Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgrenzung zwischen nichtselbständiger und gewerblicher Tätigkeit bei Werbeprospektverteilern
Leitsatz (NV)
- Werbeprospektverteiler können je nach Umfang und Organisation der übernommenen Tätigkeit Arbeitnehmer oder Gewerbetreibende sein.
- Die Frage, ob Steuerpflichtige selbständig/gewerblich bzw. nichtselbständig tätig sind, ist nicht nach Berufsgruppen, sondern aufgrund einer Vielzahl von in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien nach dem Gesamtbild der jeweiligen Verhältnisse zu beurteilen.
- Diese Abgrenzungsmerkmale sind im konkreten Einzelfall von den Finanzgerichten als Tatsacheninstanz jeweils zu gewichten und gegeneinander abzuwägen.
- Es gehört in erster Linie zur tatrichterlichen Überzeugungsbildung, wie bei einer Gesamtwürdigung die Gewichte verschiedener Indizien gesetzt werden.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1 S. 1; EStG § 19 Abs. 1, § 15; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) betreibt einen Werbemittelvertrieb. Sie beauftragt Verteiler, Werbeprospekte an Haushalte zu verteilen. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt ―FA―) behandelte die Werbeprospektverteiler als Arbeitnehmer der Klägerin und forderte von ihr bisher nicht abgeführte Lohnsteuer und Nebenleistungen nach. Das Finanzgericht (FG) hob den einschlägigen Nachforderungsbescheid des FA auf. Es führte unter Bezugnahme auf die Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 24. Juli 1992 VI R 126/88 (BFHE 169, 154, BStBl II 1993, 155) und vom 2. Dezember 1998 X R 83/96 (BFHE 188, 101, BStBl II 1999, 534) aus, ob eine Arbeitnehmereigenschaft zu bejahen sei, bestimme sich nach dem Gesamtbild der Verhältnisse, wobei die für bzw. gegen die Nichtselbständigkeit sprechenden Umstände gegeneinander abzuwägen und Einzelmerkmale nach ihrer Bedeutung zu gewichten seien. Bei einer entsprechenden Würdigung und Abwägung der maßgeblichen Umstände (vgl. auch Abschn. 67 der Lohnsteuer-Richtlinien ―LStR― 1996) seien die Werbeprospektverteiler nicht als Arbeitnehmer der Klägerin anzusehen.
Hiergegen wendet sich das FA mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde. Es macht geltend, das Urteil des FG weiche vom BFH-Urteil in BFHE 169, 154, BStBl II 1993, 155 (Stromableser) sowie insbesondere von dem nicht veröffentlichten Beschluss des BFH vom 21. November 1980 VI S 4/80 (Verteiler von Wurfsendungen) ab. Bei der Würdigung der im Wesentlichen gleichgelagerten Gesamtumstände gelange der BFH ―anders als das FG― zu der Rechtsfolge, dass die Werbeprospektverteiler Arbeitnehmer seien. Der vom FG beurteilte Sachverhalt entspreche in so wesentlicher Weise den vom BFH entschiedenen Sachverhalten in den beiden genannten BFH-Entscheidungen, dass der Streitfall als "mitentschieden" anzusehen sei (Hinweis auf BFH-Beschluss vom 24. Oktober 1990 II B 31/90, BFHE 162, 483, BStBl II 1991, 106).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Entgegen der Auffassung des FA ist eine höchstrichterliche Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO― n.F.).
Dieser Zulassungsgrund ist insbesondere dann gegeben, wenn das FG von einer höherrangigen Entscheidung, u.a. des BFH, abweicht. Daran fehlt es. Eine Abweichung in diesem Sinne liegt vor, wenn das FG ein und dieselbe Rechtsfrage anders beantwortet als die Vergleichsentscheidung, also einen Rechtssatz aufstellt, der sich mit dem in der Vergleichsentscheidung aufgestellten Rechtssatz nicht deckt. Dabei lässt der Senat offen, ob (und ggf. unter welchen Umständen) eine Abweichung von einem im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung ergangenen Beschluss (hier: o.a. BFH-Beschluss vom 21. November 1980 VI S 4/80) eine Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO begründen kann.
Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH, dass der Arbeitnehmerbegriff sich nicht durch Aufzählung feststehender Merkmale abschließend bestimmen lässt. Das Gesetz bedient sich nicht eines tatbestandlich scharf umrissenen Begriffs, der auf eine einfache Subsumtion hoffen ließe (vgl. auch Eisgruber in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 3. Aufl., § 19 Rz. 53). Vielmehr stellt der Begriff des Arbeitnehmers einen offenen Typus dar, der nur durch eine größere und unbestimmte Zahl von Merkmalen beschrieben werden kann (Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 22. Aufl., 2003, § 19 Rz. 8, m.w.N.). Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist deshalb die Frage, ob jemand eine Tätigkeit selbständig oder nichtselbständig ausübt, anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Kriterien nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen. Hierzu hat der BFH im Urteil vom 14. Juni 1985 VI R 150-152/82 (BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661; vgl. auch Abschn. 67 LStR 1996; jetzt H 67 Arbeitnehmer - Amtliches Lohnsteuer-Handbuch 2003) zahlreiche Kriterien (Indizien) beispielhaft aufgeführt, die für die bezeichnete Abgrenzung Bedeutung haben können (vgl. auch Herrmann in Frotscher, Einkommensteuergesetz, § 19 Rz. 23 a ff., m.w.N.). Diese Merkmale sind im konkreten Einzelfall jeweils zu gewichten und gegeneinander abzuwägen (s. auch BFH-Urteile vom 23. Oktober 1992 VI R 59/91, BFHE 170, 48, BStBl II 1993, 303; vom 23. April 1997 VI R 12/96, VI R 99/96, BFH/NV 1997, 656). Diese Aufgabe obliegt nach ständiger Rechtsprechung in erster Linie den Finanzgerichten als Tatsacheninstanz. Die im Wesentlichen auf tatrichterlichem Gebiet liegende Beurteilung ist revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar (vgl. auch Schmidt/ Drenseck, a.a.O., § 19 Rz. 8 a.E.).
Das FG hat ausdrücklich die zitierte ständige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Es hat unter Beachtung der vorbezeichneten Grundsätze die für und gegen ein Arbeitsverhältnis sprechenden Merkmale dargelegt, nach ihrer Bedeutung gewichtet und gegeneinander abgewogen. Diese mit der BFH-Rechtsprechung in Einklang stehende Verfahrensweise kann unter den gegebenen Umständen keine Zulassung wegen Divergenz begründen. Auch unter Berücksichtigung der erweiterten Neufassung des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO n.F. (vgl. Seer, Steuer und Wirtschaft 2003, 193, 197) ist eine Entscheidung des BFH nicht erforderlich.
Gegenteiliges ergibt sich auch nicht daraus, dass die Vorentscheidung zu einer anderen Rechtsfolge als der BFH in den angeführten Vergleichsentscheidungen gekommen ist. Denn es gehört zur tatrichterlichen Überzeugungsbildung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO), wie bei einer Gesamtabwägung die Gewichte verschiedener Indizien gesetzt werden. Dass das FG bei seiner vertretbaren Beweiswürdigung die Denkgesetze verletzt oder gegen den Akteninhalt verstoßen hätte, ist nicht ersichtlich. Das FG konnte zu seiner Überzeugung kommen; es ist nicht erforderlich, dass es zu ihr kommen musste.
Im Kern wendet sich das FA mit seiner Beschwerdebegründung gegen die (Gesamt-)Würdigung des FG. Ein solcher Angriff auf eine Einzelfallwürdigung eröffnet indessen eine Zulassung der vom FA angestrebten Revision nicht (vgl. auch BFH-Beschluss vom 28. Januar 2003 VI B 161/00, BFH/NV 2003, 793, m.w.N.).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 1067346 |
BFH/NV 2004, 42 |
DStRE 2004, 28 |
HFR 2003, 1181 |
NZA 2004, 476 |