Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsschutzbedürfnis für Klage gegen einen wegen verfassungsrechtlich umstrittener Besteuerungsgrundlagen für vorläufig erklärten Steuerbescheid
Leitsatz (NV)
Ist der angefochtene Einkommensteuerbescheid im Hinblick auf ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht für vorläufig erklärt worden, besteht für eine Klage vor dem Finanzgericht wegen der verfassungsrechtlich umstrittenen Besteuerungsgrundlagen in der Regel kein Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Rechtsstreit und das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht dieselbe Vorschrift betreffen (BFH-Beschlüsse vom 9. August 1994 X B 26/94, BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803 und vom 22. März 1996 III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506). Das Rechtsschutzbedürfnis kann aber auch dann fehlen, wenn das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht -- hier: Kinderfreibetrag 1987 für ein Kind -- nicht die Gesetzesfassung des Streitjahres -- hier: Kinderfreibeträge 1992 für zwei Kinder -- betrifft, die Kläger selbst das verfassungsgerichtliche Verfahren aber als vorgreiflich ansehen, sich mit der Verfassungswidrigkeit der für das Streitjahr geltenden Vorschrift auch nicht auseinandersetzen und im übrigen aus ihrem gesamten prozessualen Verhalten deutlich wird, daß sie die Streitfrage nicht selbst an das BVerfG herantragen wollen.
Normenkette
AO 1977 § 165 Abs. 1
Verfahrensgang
Gründe
1. Der Senat ist vorschriftsmäßig besetzt (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 18. Februar 1994 X B 35/93, BFH/NV 1995, 120, und vom 10. August 1994 X K 4/94, BFH/NV 1995, 141).
2. Die Abweisung der Klage als unzulässig ist nicht verfahrensfehlerhaft.
Das Finanzgericht (FG) hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Senats das Rechtsschutzinteresse für die Klage verneint, weil der angefochtene Einkommensteuerbescheid wegen der verfassungsrechtlich umstrittenen Besteuerungsgrundlagen gemäß § 165 der Abgabenordnung (AO 1977) für vorläufig erklärt worden sei. Nach den Senatsbeschlüssen vom 9. August 1994 X B 26/94 (BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803) und vom 17. Mai 1995 X B 274/94 (nicht veröffentlicht) ist bei vorläufiger Festsetzung von verfassungsrechtlich umstrittenen Besteuerungsgrundlagen ein Rechtsschutzinteresse für eine Klage vor dem FG nur dann gegeben, wenn die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) trotz der bereits anhängigen Musterverfahren aus berechtigtem Interesse eine weitere Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) oder eine abweisende Entscheidung des FG erreichen wollen, damit sie selbst Verfassungsbeschwerde erheben können.
Im Streitfall wird u. a. die Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge für das Streitjahr 1992 bei zwei Kindern gerügt. Das beim BVerfG anhängige Verfahren betrifft die Verfassungsmäßigkeit des Kinderfreibetrags für 1987 bei einem Kind (vgl. Vorlagebeschluß des BFH vom 16. Juli 1993 III R 206/90, BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755). Als Musterverfahren ist nach dem Beschluß des III. Senats des BFH vom 22. März 1996 III B 173/95 (BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506) nur ein Verfahren anzusehen, das dieselbe Gesetzesfassung betrifft. Nach Auffassung des III. Senats darf das Rechtsschutzbedürfnis nicht allein deshalb abgesprochen werden, weil die Erwartung bestehe, die beim BVerfG wegen anderer Rechtsvorschriften anhängigen Verfahren könnten zur Klärung verfassungsrechtlicher Beurteilungsmaßstäbe führen, welche auch für die Vorschrift des Streitjahres von Bedeutung seien. Im Streitfall liegen jedoch Gründe vor, die zum Verlust des grundsätzlich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses führen.
Die Kläger haben nicht vorgetragen, warum der Kinderlastenausgleich des Jahres 1992 bei zwei Kindern verfassungswidrig sein soll. Sie haben sich zur Begründung lediglich auf den Vorlagebeschluß in BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755 bezogen, der den Kinderlastenausgleich des Jahres 1987 für ein Kind betrifft. Sie selbst sehen also die Entscheidung des BVerfG über die Vorlage als vorgreiflich für den Streitfall an. Nur wenn in einem solchen Fall im Klageverfahren unter Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung detailliert die Gründe für eine Verfassungswidrigkeit der umstrittenen Vorschrift dargelegt werden, besteht trotz vorläufiger Festsetzung in diesem Punkt ein Rechtsschutzinteresse für eine Klage vor dem FG. Daß die Kläger an einer sofortigen materiell-rechtlichen Entscheidung nicht interessiert sind und das Verfahren nicht selbst an das BVerfG herantragen wollen, wird durch ihr sonstiges prozessuales Verhalten bestätigt. Denn sie haben sowohl im Klageverfahren als auch im Verfahren wegen Nichtzulassung der Revision beantragt, das Verfahren bis zur Entscheidung über bestimmte (nicht Kinderfreibeträge betreffende) Verfassungsbeschwerden auszusetzen.
3. Gründe für eine Aussetzung des Beschwerdeverfahrens liegen nicht vor.
4. Die Entscheidung ergeht im übrigen nach Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ohne Begründung.
Fundstellen
Haufe-Index 422014 |
BFH/NV 1997, 278 |