Entscheidungsstichwort (Thema)
Neuerlaß eines Haftungsbescheids nach Aufhebungsverfügung
Leitsatz (NV)
1. Zum Neuerlaß eines Haftungsbescheids nach Aufhebung eines vorangegangenen Haftungsbescheids.
2. Eine Einschränkung für den Neuerlaß des Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 2 AO 1977 bzw. nach den Grundsätzen von Treu und Glauben besteht nur, wenn durch die Aufhebungsverfügung ein Vertrauenstatbestand begründet worden ist und soweit der ursprüngliche und der neue Haftungsbescheid dieselben Sachverhalte betreffen.
Normenkette
AO 1977 §§ 69, 71, 130 Abs. 2, § 191
Tatbestand
Das beklagte Finanzamt (FA) nahm den Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) als Geschäftsführer einer GmbH durch Haftungsbescheid wegen nicht abgeführter Lohnsteuer nach § 69 der Abgabenordnung (AO 1977) in Anspruch. Nach erfolglosem Einspruch hob das FA im Klageverfahren auf richterlichen Hinweis den Haftungsbescheid auf, weil er keine Begründung der Ermessensentscheidung enthielt. Durch Haftungsbescheid vom . . . nahm es den Antragsteller erneut in Anspruch. Die Haftung wurde nunmehr auf Steuerhinterziehung nach § 71 AO 1977 gestützt und erstreckte sich - neben Säumniszuschlägen und Verspätungszuschlägen - auf Lohnsteuer, wegen deren Hinterziehung der Antragsteller durch Strafurteil rechtskräftig verurteilt worden war.
Der Antragsteller hat gegen den erneuten Haftungsbescheid nach erfolglosem Einspruch wiederum Klage erhoben und dessen Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht (FG) beantragt. Sein Antrag, ihm für das Klage- und Aussetzungsverfahren Prozeßkostenhilfe (PKH) zu gewähren, hatte hinsichtlich der mit dem Haftungsbescheid geltend gemachten Säumniszuschläge und Verspätungszuschläge Erfolg. Hinsichtlich der festgesetzten Lohnsteuer lehnte das FG den PKH-Antrag mit der Begründung ab, bei summarischer Beurteilung lägen die Voraussetzungen der Haftung nach den §§ 71, 191, AO 1977 vor. Im Hinblick auf die Festsetzungsfrist von zehn Jahren für hinterzogene Beträge (§ 169 Abs. 2 Satz 2, § 191 Abs. 3 AO 1977) sei die Festsetzungsverjährung im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Haftungsbescheids noch nicht eingetreten gewesen. Die Vorschrift des § 130 Abs. 2 AO 1977 stehe dem - erneuten - Haftungsbescheid nicht entgegen, denn dieser stelle keine ,,Rücknahme" der Aufhebungsverfügung dar. Auf Treu und Glauben könne sich der Antragsteller nicht berufen; da die Aufhebung des ursprünglichen Haftungsbescheids ausdrücklich mit der fehlenden Ermessensausübung begründet worden sei, habe er nicht davon ausgehen können, das FA wolle ihn gänzlich aus der Haftung entlassen.
Mit der Beschwerde beantragt der Antragsteller, unter Aufhebung der Vorentscheidung, soweit mit dieser der Antrag auf PKH abgelehnt worden ist, ihm für das Klage- und Aussetzungsverfahren in vollem Umfang PKH unter Beiordnung seines Prozeßbevollmächtigten zu gewähren. Er meint, die Aufhebungsverfügung enthalte einen begünstigenden Verwaltungsakt, auf den die Vorschrift des § 130 Abs. 2 AO 1977 anzuwenden sei. Da die dort (Nrn. 1 bis 4) aufgeführten Gründe für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte nicht vorlägen, hätte der nachfolgende Haftungsbescheid nicht ergehen dürfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
1. Das FG hat dem Antragsteller zu Recht die Bewilligung von PKH für das Klageverfahren und das Verfahren der Aussetzung der Vollziehung wegen seiner Inanspruchnahme als Haftungsschuldner für die nicht ordnungsgemäß angemeldete und abgeführte Lohnsteuer der Arbeitnehmer der GmbH versagt; denn die Klage gegen den - erneuten - Haftungsbescheid und der Antrag, seine Vollziehung auszusetzen, bieten insoweit keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i. V. m. § 114 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Wegen der Erfüllung des Haftungstatbestandes des § 71 AO 1977 (Steuerhinterziehung) durch den Antragsteller und der noch nicht eingetretenen Festsetzungsverjährung nimmt der Senat auf die Ausführungen der Vorentscheidung, die von der Beschwerde nicht angegriffen worden sind, Bezug. Entgegen der Auffassung des Antragstellers war das FA nach der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Beurteilung durch die Aufhebung des ursprünglichen Haftungsbescheids nicht daran gehindert, den nunmehr angefochtenen - erneuten - Haftungsbescheid gegen den Antragsteller zu erlassen.
2. Nach dem Urteil des VI. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25. Juli 1986 VI R 216/83 (BFHE 147, 215, BStBl II 1986, 779) ist das FA grundsätzlich befugt, an die Stelle eines Haftungsbescheids, den es wegen (angenommener) Fehlerhaftigkeit aufgehoben hat, einen neuen fehlerfreien Haftungsbescheid (mit den gleichen Haftungsbeträgen) zu setzen. Von einer solchen Möglichkeit soll das FA jedoch nach den Grundsätzen von Treu und Glauben dann keinen Gebrauch machen können, wenn es vorher dem Betroffenen mitgeteilt hat, es werde von der weiteren Geltendmachung des Haftungsanspruchs absehen; letzteres hat der VI. Senat für den Urteilsfall angenommen, in dem der Haftungsbescheid ,,ersatzlos" aufgehoben worden war. Der beschließende Senat hat dagegen für einen mit dem Urteilsfall des VI. Senats vergleichbaren Sachverhalt der Rücknahme - die Worte ,,Aufhebung" und ,,Rücknahme" haben insoweit keine unterschiedliche Bedeutung - und des Neuerlasses von Haftungsbescheiden entschieden, daß in der Rücknahme (Aufhebung) eines Haftungsbescheids ein Verwaltungsakt liegt, der den Haftungsschuldner gegenüber der vorausgegangenen formellen Rechtslage ausschließlich begünstigt, indem er die belastende Wirkung des ursprünglichen Haftungsbescheids beseitigt. Der Senat hat daraus gefolgert, daß die Rücknahmeverfügung nur dann zurückgenommen und durch einen erneuten Haftungsbescheid für denselben Sachverhalt ersetzt werden darf, wenn die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO 1977, der die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte regelt, gegeben sind (BFH-Urteil vom 22. Januar 1985 VII R 112/81, BFHE 143, 203, BStBl II 1985, 562).
Auf die Anwendbarkeit des § 130 Abs. 2 AO 1977 für den Streitfall beruft sich auch der Antragsteller. Er meint, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift (Nrn. 1 bis 4) hinsichtlich der Aufhebungsverfügung nicht gegeben seien, hätte nach der Aufhebung des ursprünglichen Haftungsbescheids der angefochtene neue Bescheid nicht erlassen werden dürfen. Der Senat braucht zu den unterschiedlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen des erneuten Erlasses eines Haftungsbescheids, nachdem der vorausgegangene Haftungsbescheid aufgehoben (zurückgenommen) worden ist, nach den beiden BFH-Urteilen nicht abschließend Stellung zu nehmen (vgl. hierzu Hein, Zum Neuerlaß eines Haftungsbescheids nach ,,ersatzloser" Aufhebung eines inhaltsgleichen vorangegangenen Bescheids, Deutsches SteuerRecht - DStR - 1987, 175). Er ist der Auffassung, daß sich der Streitfall von den zitierten Urteilsfällen wesentlich unterscheidet, so daß trotz der vorausgegangenen Aufhebungsverfügung weder die Grundsätze von Treu und Glauben noch die Vorschrift des § 130 Abs. 2 AO 1977 dem Erlaß des angefochtenen Haftungsbescheids entgegenstanden.
3. Die Bindungswirkung einer Aufhebungsverfügung - gleichgültig, ob sie mit dem Grundsatz von Treu und Glauben oder mit der eingeschränkten Rücknehmbarkeit begünstigender Verwaltungsakte nach § 130 Abs. 2 AO 1977 begründet wird - knüpft an einen beim Haftungsschuldner begründeten Vertrauenstatbestand an. So stellt der VI. Senat des BFH in BFHE 147, 215, BStBl II 1986, 779 darauf ab, daß dem Betroffenen mit der ,,ersatzlosen" Aufhebung des Haftungsbescheids mitgeteilt worden sei, es werde von der weiteren Geltendmachung des Haftungsanspruch abgesehen. Auch der VII. Senat sieht in § 130 Abs. 2 AO 1977 einen Ausfluß des Grundsatzes des Vertrauensschutzes, der z. B. dann nicht eingreift, wenn in derselben Verfügung die Rücknahme des ursprünglichen Haftungsbescheids und die erneute Inanspruchnahme des Haftungsschuldners erfolgt, weil dann kein schutzwürdiges Vertrauen begründet worden ist (BFHE 143, 203, 205, 206, BStBl II 1985, 562, 563).
Im Streitfall ist aber der ursprüngliche Haftungsbescheid nicht ,,ersatzlos" aufgehoben worden; die Aufhebung ist vielmehr damit begründet worden, daß der Haftungsbescheid keine Begründung der Ermessensentscheidung enthalte. Die Aufhebungsverfügung war somit nicht geeignet, den Vertrauenstatbestand beim Antragsteller zu begründen, es werde von seiner Inanspruchnahme als Haftungsschuldner endgültig abgesehen. Wie das FG zutreffend ausgeführt hat, war zumindest dem fachkundigen Prozeßbevollmächtigten des Antragstellers, dem die Aufhebungsverfügung bekannt gegeben worden war, erkennbar, daß die Aufhebung der Beseitigung eines formellen Mangels des Bescheides diente. Er mußte trotz der Aufhebung damit rechnen, daß der fehlerhafte Bescheid durch einen formell fehlerfreien Haftungsbescheid ersetzt würde. Da der Antragsteller weder aus der Aufhebungsverfügung noch aus ihren Begleitumständen - hier: Aufhebung durch das FA im Rahmen eines Klageverfahrens, um der Verurteilung wegen formeller Fehlerhaftigkeit des Bescheids zu entgehen - entnehmen konnte, er werde nicht erneut in Anspruch genommen, besteht kein Vertrauensschutz, der den Erlaß des erneuten Haftungsbescheids nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO 1977 ermöglichen, oder nach Treu und Glauben ganz ausschließen würde (vgl. Tipke / Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 191 AO 1977 Tz. 24; Hein, DStR 1987, 175, 177).
4. Einschränkungen für den Neuerlaß eines Haftungsbescheids nach Aufhebung eines vorangegangenen Bescheids nach § 130 Abs. 2 AO 1977 bzw. nach den Grundsätzen von Treu und Glauben können im übrigen nur insoweit bestehen, als der aufgehobene und der erneute Bescheid dieselben Sachverhalte betreffen; auch die vorstehend zitierten Urteile des VI. und VII. Senats des BFH beziehen sich auf inhaltsgleiche Haftungsbescheide mit gleichen Haftungsbeträgen. Im Streitfall stimmt aber der angefochtene Haftungsbescheid mit dem ursprünglichen, später aufgehobenen Haftungsbescheid inhaltlich nicht überein.
Der erste Bescheid betraf eine Lohnsteuerhaftungssumme von insgesamt . . . DM und war auf § 69 AO 1977 gestützt, während der nach seiner Aufhebung erneut erlassene Haftungsbescheid einen Lohnsteuerhaftungsbetrag von . . . DM betrifft, den nach den Feststellungen im Strafurteil der Antragsteller hinterzogen haben soll, weshalb er nunmehr nach § 71 AO 1977 in Anspruch genommen wird. Darin liegt nicht lediglich eine Einschränkung der Haftungssumme - die allein die Anwendbarkeit des § 130 Abs. 2 AO 1977 nicht ausschließen würde - oder ein Austausch der Haftungsgrundlagen, sondern die beiden Haftungsbescheide sind auch auf unterschiedliche Sachverhalte gestützt. In der Begründung des ursprünglichen Bescheids wird dem Antragsteller vorgeworfen, seiner Verpflichtung als Geschäftsführer, die einbehaltene und angemeldete Lohnsteuer fristgerecht an das FA abzuführen, nicht in dem erforderlichen Maße nachgekommen zu sein (§§ 34 Abs. 1, 69 AO 1977). Die Haftung wegen Steuerhinterziehung (§ 71 AO 1977) in dem angefochtenen Haftungsbescheid wird dagegen damit begründet, daß er der Finanzbehörde gegenüber in den monatlichen Lohnsteueranmeldungen bewußt unrichtige bzw. den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechende Angaben gemacht habe. Das FA war aber weder durch eine positive Rechtsnorm noch durch allgemeine Rechtsgrundsätze daran gehindert, nach Aufhebung des ursprünglichen Haftungsbescheids für einen ganz anderen Sachverhalt aufgrund neuer Feststellungen (hier: Verurteilung des Antragstellers wegen Steuerhinterziehung durch das Landgericht) erneut einen Haftungsbescheid für die Streitjahre zu erlassen.
Dem Antragsteller kann somit mangels Erfolgsaussicht für sein Klage- und Aussetzungsverfahren über den vom FG bewilligten Umfang hinaus keine PKH bewilligt werden.
Fundstellen