Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerügte Verfahrensmängel im NZB-Verfahren wegen Schätzungsbescheiden
Leitsatz (NV)
1. Es ist höchstrichterlich geklärt, dass Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden können, wenn der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht nicht genügt und deshalb der steuerlich relevante Sachverhalt nicht ermittelt werden kann.
2. Erlässt das FA Schätzungsbescheide, dann kann das klageabweisende Urteil, das die Schätzungsbefugnis bestätigt, insoweit keine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung sein.
3. Die Mitwirkung ehemaliger Angehöriger der Finanzverwaltung als Richter an einer finanzgerichtlichen Entscheidung verstößt weder gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung noch gegen Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
4. Einem Urteil fehlen nicht bereits deshalb die Entscheidungsgründe, weil die Ausführungen aus Beteiligtensicht unzulänglich, rechtsfehlerhaft oder nicht überzeugend sind.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2, § 119 Nr. 6, § 155; ZPO § 227; AO § 162; BGB § 162; EMRK Art. 6
Verfahrensgang
FG Münster (Urteil vom 31.10.2007; Aktenzeichen 8 K 1667/05 E,U) |
Tatbestand
Rz. 1
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war bis April 2005 als Rechtsanwalt, Notar und Steuerberater tätig.
Rz. 2
Die Beteiligten streiten über die Höhe der von ihm in den Streitjahren erzielten Einkünfte und Umsätze, die der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) nach vorausgegangener Außenprüfung und Ermittlungen der Steuerfahndung (Steufa) abweichend von den Steuererklärungen des Klägers festsetzte.
Rz. 3
Die vom Kläger angefochtene Prüfungsanordnung ist rechtskräftig geworden, nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) die gegen das insoweit zu Grunde liegende Urteil des Finanzgerichts (FG) gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde vom 6. Juli 2001 IV B 121/00 als unzulässig zurückgewiesen hat.
Rz. 4
Die Klage gegen die Steueränderungsbescheide über Einkommen- und Umsatzsteuer für die Streitjahre (1995 bis 2001) war nur teilweise erfolgreich; auf das Urteil des FG wird insoweit Bezug genommen.
Rz. 5
Mit seiner dagegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts und Verfahrensmängel.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
II. Die Beschwerde ist unbegründet; Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) liegen nicht vor.
Rz. 7
1. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn eine Frage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse besteht, weil ihre Klärung das Interesse der Allgemeinheit an der Entwicklung und Handhabung der Rechts betrifft (ständige Rechtsprechung, s. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 23 ff., m.w.N.; BFH-Beschluss vom 27. April 2007, VIII B 250/05, BFH/NV 2007, 1675). Es muss sich um eine aus rechtssystematischen Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche Rechtsanwendung wichtige Frage handeln. Die vom Kläger im Streitfall aufgeworfenen Fragen genügen diesen Anforderungen nicht.
Rz. 8
Es ist höchstrichterlich geklärt, dass die Verletzung von Mitwirkungspflichten durch den Steuerpflichtigen zur Schätzung berechtigt, insbesondere dann, wenn diese Pflichten Tatsachen und Beweismittel aus seiner Wissenssphäre betreffen (s. BFH- Beschluss vom 9. Mai 2006 XI B 104/05, BFH/NV 2006, 1801, m.w.N.). § 162 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) gilt entsprechend, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen nicht vorlegen will (Pahlke/Koenig/Cöster, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 162 Rz 61).
Rz. 9
Ebenso wenig von grundsätzlicher Bedeutung ist die Frage, ob ein in § 162 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zum Ausdruck kommender allgemeiner Rechtsgedanke im Steuerrecht Anwendung findet. § 162 BGB befasst sich mit dem Fall der Vereitelung eines Bedingungseintritts in einem Vertragsverhältnis. Es ist nicht ersichtlich, dass die Anwendung eines dieser Vorschrift zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgedankens im Steuerrecht klärungsbedürftig und -fähig wäre. Soweit es um die Grundsätze von Treu und Glauben gehen sollte, ist im Übrigen allgemeine Auffassung, dass diese Normcharakter auch im Steuerrecht haben (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 128, m.w.N.). Ihrer Anwendung im Einzelfall kommt wegen der jeweils zu berücksichtigenden Besonderheiten aber regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung zu.
Rz. 10
2. Eine Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO wegen Divergenz zu der vom Kläger angeführten Entscheidung des FG Saarland vom 16. Januar 1981 I 501-504/78 (juris, nicht veröffentlicht) ist nicht geboten, weil das vom Kläger angeführte Zitat für jene Entscheidung nicht erheblich war (obiter dictum); zudem unterschied sich der dort zugrunde liegende Sachverhalt nicht unwesentlich von dem des Streitfalls.
Rz. 11
3. Das angefochtene Urteil leidet auch nicht unter den gerügten Verfahrensmängeln i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
Rz. 12
a) Indem der Kläger rügt, dass seinem Vertagungsantrag im Termin vom 31. Oktober 2007 nicht entsprochen worden sei, macht er inzident als Verfahrensmangel die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend. Diese Rüge hat schon deshalb keinen Erfolg, weil der Kläger ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung keine erheblichen Gründe i.S. von § 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung vorgetragen hat; neuer Tatsachenvortrag im Beschwerdeverfahren, wie die nunmehr vorgetragenen gesundheitlichen Gründe, muss dabei unberücksichtigt bleiben.
Rz. 13
b) Kein Erfolg ist auch der Rüge beschieden, die Finanzgerichte des Landes Nordrhein-Westfalen seien keine unabhängigen und unparteiischen Gerichte i.S. des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK) und ihre Besetzung verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, da man Berufsrichter an einem Finanzgericht des Landes Nordrhein-Westfalen nur werden könne, wenn man zuvor von der Finanzverwaltung ausgebildet worden sei. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob Art. 6 MRK überhaupt auf Steuerrechtsstreitigkeiten anwendbar ist, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Vergangenheit verneint hat (vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Art. 6 Rz 4, 9, m.w.N.). Denn bereits mit Kammerbeschluss vom 9. Dezember 1987 1 BvR 1271/87 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1989, 272) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erkannt, dass die frühere Verbindung eines Finanzrichters zur Exekutive keine Vermutung mangelnder Unabhängigkeit rechtfertigt (s. auch BFH-Beschluss vom 9. Januar 2009 V B 23/08, BFH/NV 2009, 801). Dass der Kläger allgemein gehaltene Zweifel anmeldet und die Meinung des BVerfG für unzutreffend hält --ohne Bezugnahme auf eine bestimmte Entscheidung und ohne Auseinandersetzung mit den Gründen dieser Rechtsprechung--, lässt einen Revisionszulassungsgrund nicht erkennen.
Rz. 14
c) Die hinsichtlich verschiedener Einzelpunkte erhobene Rüge fehlender Entscheidungsgründe ist nicht begründet. Eine Entscheidung ist nur dann nicht mit Gründen i.S. von § 119 Nr. 6 FGO versehen, wenn diese ganz oder zu einem wesentlichen Teil fehlen. Der Begründungszwang (§ 96 Abs. 1 Satz 3 FGO) hat u.a. den Sinn, die Übereinstimmung des Ergebnisses mit Gesetz und Recht auszuweisen (Legitimationsfunktion) und die Prozessbeteiligten in die Lage zu versetzen, die Gründe zu bedenken, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (vgl. Gräber/v. Groll, a.a.O., § 105 Rz 11). Dem Begründungszwang hat das FG im Streitfall mit seinem Urteil, dessen Entscheidungsgründe allein 20 Seiten umfassen, genügt. Für einen Revisionszulassungsgrund i.S. von § 119 Nr. 6 FGO reicht es nicht aus, wenn vorgetragen wird, die Begründung sei unzulänglich, rechtsfehlerhaft oder nicht überzeugend (BFH-Beschluss vom 23. Dezember 2002 III B 77/02, BFH/NV 2003, 502, m.w.N.; Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 24) oder setze sich nicht mit sämtlichen rechtlichen Erwägungen des Klägers auseinander oder sei in sich widersprüchlich (BFH-Beschluss vom 5. August 2004 II B 159/02, BFH/NV 2004, 1665). Die diesbezüglich erhobenen Einwände des Klägers stellen sich damit im Kern als Rüge materiell-rechtlich fehlerhafter Tatsachenwürdigung und Rechtsanwendung im Einzelfall dar, die mit der Nichtzulassungsbeschwerde nicht erfolgreich geltend gemacht werden kann (vgl. BFH-Beschlüsse vom 28. September 2001 V B 77/00, BFH/NV 2002, 359; vom 4. Juli 2002 IX B 169/01, BFH/NV 2002, 1476).
Rz. 15
d) Soweit der Kläger vorträgt, er habe entscheidungserhebliche Aufstellungen des Fahndungsprüfers weder vom FA noch vom FG erhalten (I.10 und II.1 der Beschwerdebegründung), ist seinem weiteren Vortrag nicht zu entnehmen, dass er den Inhalt dieser Aufstellung(en) nicht gekannt hätte und ihm deshalb das rechtliche Gehör versagt worden wäre. Vielmehr führt er selbst aus, er habe "diese umfangreichen Listen nur über die Akteneinsicht eines früheren Kollegen, der dabei entsprechende Kopien gefertigt hat, erhalten".
Rz. 16
e) Der Verfahrensfehler einer Überraschungsentscheidung wegen fehlenden Hinweises des Gerichts auf die Möglichkeit einer Schätzung von Besteuerungsgrundlagen ist nicht ersichtlich.
Rz. 17
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegt eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis seine Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt, der weder im Besteuerungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren zur Sprache gekommen ist und mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2008 VIII B 29/07, BFH/NV 2009, 574, m.w.N.).
Rz. 18
Hier kann dahingestellt bleiben, ob in der nach eigenen Angaben des Klägers mehrere Stunden währenden mündlichen Verhandlung die Möglichkeit der Schätzung nicht angesprochen wurde. Im Streitfall liegt eine Überraschungsentscheidung in diesem Sinne ersichtlich nicht vor, denn den angefochtenen Steuerbescheiden lag bereits die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zu Grunde. Überdies musste dem sach- und fachkundigen Prozessbevollmächtigten des Klägers klar sein, dass unter den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 162 AO eine Schätzung auch im finanzgerichtlichen Verfahren würde erfolgen können (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). In diesem Zusammenhang vertritt der Kläger die Rechtsauffassung, § 162 AO sei nicht einschlägig; die Vorschrift erfasse nur den Fall, dass der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen nicht vorlegen könne, nicht aber seinen Fall, in dem Unterlagen vorhanden, allerdings tatsächlich nicht vorgelegt worden seien. Dass das FG diese Rechtsauffassung nicht teilen würde, konnte den Kläger jedenfalls nicht überraschen. Denn dass die Schätzungsbefugnis nach § 162 AO auch besteht, wenn der Steuerpflichtige Unterlagen zwar vorlegen könnte, dies aber bewusst nicht tut, ist nicht zweifelhaft (vgl. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 162 AO Rz 37).
Fundstellen