Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Beschwerde gegen noch nicht ergangenen Beschluß; Akteneinsicht grundsätzlich nicht in Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten
Leitsatz (NV)
Eine vor Beschlußfassung eingelegte Beschwerde ist unzulässig. Die nach Zustellung des Beschlusses abgegebene Erklärung, die Beschwerde werde aufrechterhalten, stellt eine neuerliche Beschwerde dar.
Versendung der Akten in die Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten kann nur in Ausnahmefällen erfolgen.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1 S. 1, § 120 Abs. 1 S. 1, § 129 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beschwerdeführer ist der Prozeßbevollmächtigte der Kläger für deren Rechtsstreit gegen das Finanzamt X (FA) wegen Gewinnfeststellung 1968 bis 1975, der beim Finanzgericht . . . (FG) anhängig ist. Mit Schreiben vom 5. Juni 1990 bat er den Vorsitzenden des mit der Streitsache befaßten Senats des FG, ihm Einsicht in die kompletten bei Gericht befindlichen Akten zu gewähren und die Übersendung an seine Kanzlei zu veranlassen. Mit Schreiben vom 10. Juli 1990 brachte er dieses Schreiben in Erinnerung und bat den Vorsitzenden, nunmehr unverzüglich die Versendung der Akten an ihn zu veranlassen oder aber eine ablehnende Entscheidung zu treffen. Mit Schreiben vom 16. Juli 1990 teilte die Geschäftsstelle des . . . Senats des FG dem Prozeßbevollmächtigten mit, daß die Übersendung der Akten zur Einsichtnahme inzwischen veranlaßt worden sei. Das Schreiben war unterzeichnet mit ,,auf Anordnung", Namenszeichen. Gleichzeitig übersandte das FG die Akten an das FA zur Einsichtnahme durch den Klägervertreter und bat, den Klägervertreter darüber zu informieren und einen Termin mit ihm zu vereinbaren. Mit Schreiben vom 31. Juli 1990 legte der Prozeßbevollmächtigte dagegen Beschwerde ein, daß durch die Übersendung der Akten an das FA gleichzeitig sein Antrag auf Übersendung der Akten in seine Kanzlei abgelehnt worden sei. Er lehnte es ab, die Akten beim FA einzusehen.
Mit Schreiben vom 5. September 1990 teilte der Vorsitzende des . . . Senats des FG dem Prozeßbevollmächtigten mit, daß ausweislich eines Vermerks der Berichterstatter verfügt habe, die Akten seien zum Zwecke der Einsichtnahme durch den Prozeßbevollmächtigten dem FA Z (Sitz der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten) zuzuleiten. Aufgrund eines nicht mehr aufklärbaren Irrtums habe die Geschäftsstelle die Akten jedoch dem beklagten FA zugeleitet. Es werde gebeten, dieses Versehen zu entschuldigen. Entsprechend der im . . . Senat des FG herrschenden Übung würden selbstverständlich die gesamten Akten nunmehr zur Einsichtnahme bei dem für den Kanzleisitz zuständigen FA Z zur Verfügung gestellt. Die Aktenübersendung sei mit gleicher Post veranlaßt worden. Damit sei dem in der Beschwerdeschrift enthaltenen Hilfsantrag entsprochen. Um dem Anspruch auf eine förmliche Entscheidung über den Antrag gemäß § 78 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Genüge zu tun, ergehe folgender Beschluß:
,,Das Begehren der Prozeßbevollmächtigten der Kläger, die dem Gericht vorliegenden Akten in deren Kanzlei zu übersenden, wird abgelehnt."
Der Beschluß war mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen, wonach innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe Beschwerde eingelegt werden könne. Er wurde durch Postzustellungsurkunde am 11. September 1990 dem Prozeßbevollmächtigten zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 5. Oktober 1990, beim FG eingegangen am 8. Oktober 1990, teilte der Prozeßbevollmächtigte mit, daß er seine Beschwerde aufrechterhalten und daß diese dem Bundesfinanzhof (BFH) vorgelegt werden möge.
Das FG hat durch Beschluß vom 22. Oktober 1990 der Beschwerde nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig.
1. Soweit sich die Beschwerde vom 31. Juli 1990 gegen die am 16. Juli 1990 veranlaßte Aktenübersendung an das FA und/oder eine sich aus dem Begleitschreiben vom selben Tage ergebende ,,Anordnung" richtet, ist sie nicht statthaft. Diese Maßnahmen enthalten zwar incident eine Ablehnung der vom Prozeßbevollmächtigten der Kläger begehrten Form der Akteneinsicht gegen die grundsätzlich die Beschwerde nach § 128 Abs. 1 FGO gegeben ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 29. September 1967 III B 31/67, BFHE 90, 312, BStBl II 1968, 82; vom 16. Juli 1974 VII B 31/74, BFHE 113, 94, BStBl II 1974, 716 sowie vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475). Mit der Beschwerde können nach § 128 Abs. 1 FGO aber nur Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile oder Vorbescheide sind, und in bestimmten, hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmefällen, Entscheidungen des Vorsitzenden des Gerichts angegriffen werden. Das nur von der Geschäftsstelle ,,auf Anordnung" verfaßte Schreiben an den Prozeßbevollmächtigten sowie die gleichzeitige Versendung der Akten an das FA stellen, selbst wenn die Anordnung von einem Richter des . . . Senats des FG ausgegangen sein sollte, keine Entscheidung des Gerichts dar. Eine erstmalige Entscheidung des Gerichts wurde erst zeitlich danach, nämlich am 5. September 1990, ausgelöst durch das Schreiben des Prozeßbevollmächtigten vom 31. Juli 1990, getroffen.
2. Soweit sich die Beschwerde vom 31. Juli 1990 gegen den Beschluß des FG vom 5. September 1990 richtet, ist sie unzulässig, weil sie vor Beschlußfassung eingelegt wurde (§§ 120 Abs. 1 Satz 1, 129 Abs. 1 FGO; Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 120 Tz. 12; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 120 FGO Tz. 11).
Soweit am 5. Oktober 1990 schriftsätzlich erklärt wurde, die Beschwerde vom 31. Juli 1990 werde ,,aufrechterhalten", handelt es sich um eine neuerliche Beschwerde, die unzulässig ist, weil sie verspätet eingelegt wurde. Denn der mit ordnungsmäßiger Rechtsmittelbelehrung versehene Beschluß vom 5. September 1990 war dem Prozeßbevollmächtigten am 11. September 1990 mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Die Beschwerdefrist von zwei Wochen (§ 129 Abs. 1 FGO) war mithin bereits verstrichen.
3. Die Beschwerde wäre im übrigen - ihre Zulässigkeit unterstellt - unbegründet. Denn die vom Prozeßbevollmächtigten vorgetragenen Gründe reichen nicht aus, um eine Aktenübersendung in die Anwaltskanzlei zu rechtfertigen. Wie der BFH insbesondere im Beschluß in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475 ausgeführt hat, ist dem Prozeßbevollmächtigten zur Vermeidung von Verlustrisiken und im Interesse der ständigen Verfügbarkeit der Akten bei Gericht grundsätzlich zuzumuten, sich zur Ausübung seines Rechts auf Akteneinsicht zum Gericht zu begeben. Zwar sind Ausnahmen von dieser Regelung nicht ausgeschlossen. Sie müssen sich aber auf Sonderfälle beschränken (z. B. körperliche Behinderung des Beteiligten oder seines Prozeßbevollmächtigten). Bei der Ausübung des Ermessens in der Frage der Aktenversendung in die Anwaltskanzlei kann allenfalls die Entfernung der Kanzlei von der nächstgelegenen Behörde, in deren Räumen die Akteneinsicht gewährt werden kann, von Bedeutung sein, nicht dagegen die Entfernung der Kanzlei vom Gerichtsort. Im vorliegenden Falle hat das Gericht die Versendung der Akten an das FA Z veranlaßt, mithin an denselben Ort, an dem sich auch die Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten befindet.
Fundstellen
Haufe-Index 417868 |
BFH/NV 1992, 184 |