Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensmängel: Besetzung des Gerichts, Sachaufklärungspflicht, Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
1. Dem Sitzungsprotokoll kommt nach § 94 FGO i.V. mit § 165 Satz 1 ZPO eine Beweiskraft für die Förmlichkeiten des Verfahrens einschließlich der Besetzung des Gerichts (§ 160 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) zu (st. Rspr.).
2. Der Vorwurf, gegen die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 76 FGO) verstoßen zu haben, muss sich auf den die FG-Entscheidung tragenden Grund beziehen.
3. Der Anspruch auf rechtliches Gehör und die richterliche Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) verlangen nicht, dass das Gericht die maßgebenden Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert oder sogar die einzelnen für die Entscheidung erheblichen (rechtlichen und tatsächlichen) Gesichtspunkte im Voraus andeutet (st. Rspr.).
Normenkette
FGO §§ 76, 94, 103, 105 Abs. 2 Nr. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3; ZPO § 160 Abs. 1 Nr. 2, § 165 S. 1
Verfahrensgang
Hessisches FG (Urteil vom 28.09.2005; Aktenzeichen 4 K 2212/03) |
Tatbestand
I. Streitig ist, ob eine Freistellungsbescheinigung (Verfolgung gemeinnütziger Zwecke) zu erteilen ist.
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), ein eingetragener Verein, war seit 1993 wegen der Verfolgung gemeinnütziger Zwecke von der Körperschaftsteuer befreit. Für die Streitjahre 1999 bis 2001 erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) unter dem 12. Februar 2003 einen Körperschaftsteuer-Sammelbescheid (Körperschaftsteuer: 0 DM) mit dem Hinweis, dass die Steuerbefreiung versagt werde, da die tatsächliche Geschäftsführung nicht den Satzungsbestimmungen entsprochen habe.
Das Hessische Finanzgericht (FG) hat die gegen die ablehnende Einspruchsentscheidung gerichtete Klage durch Urteil vom 28. September 2005 4 K 2212/03 abgewiesen. Nach dem Sitzungsprotokoll war die Richterbank in der mündlichen Verhandlung mit den (Berufs-)Richtern A, B und C sowie den ehrenamtlichen Richtern X und Y besetzt. Nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung wurde die Sache ausweislich des Protokolls beraten, nach der Beratung erneut aufgerufen und die Öffentlichkeit wiederhergestellt. Danach sei "In Anwesenheit der eingangs aufgeführten Richter -mit Ausnahme des Richters B, an dessen Stelle Richter D getreten war-" das Urteil verkündet worden. Die Urschrift des Urteils (Bl. 48 ff. der FG-Akte) bezeichnet im Rubrum die im Sitzungsprotokoll angeführte Richterbank und trägt die Unterschriften der Berufsrichter A, B und C. In der den Beteiligten zugestellten Ausfertigung des Urteils (z.B. die vom Kläger mit der Rechtsmittelschrift übersandte Ausfertigung, Bl. 3 ff. der Akte des Bundesfinanzhofs --BFH--) sind im Rubrum die Berufsrichter A, B und C angeführt, auf S. 10 der Ausfertigung sind (als Unterschriften der beteiligten Richter) maschinenschriftlich die Namen A, B und C erfasst.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel.
Der Kläger beantragt, die Revision gegen das angefochtene Urteil zuzulassen.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Die vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
1. Die Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§ 119 Nr. 1 FGO) ist unbegründet.
a) Nach § 103 FGO kann das Urteil nur von den Richtern und ehrenamtlichen Richtern gefällt werden, die an der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung teilgenommen haben. Das (schriftlich abgefasste) Urteil enthält die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben (§ 105 Abs. 2 Nr. 2 FGO), wobei dies die das Urteil treffenden Richter sind, nicht solche, die nur bei einer Verkündung zugegen waren (Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 105 FGO Tz. 4; von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 105 Rz. 8).
b) Die Urschrift des angefochtenen Urteils trägt im Rubrum die Namen sämtlicher Richter, die im Sitzungsprotokoll als Richterbank der mündlichen Verhandlung bezeichnet sind, und am Ende der Entscheidung die Unterschriften der Berufsrichter dieser Richterbank. Dass die den Beteiligten zugestellten Ausfertigungen des Urteils im Rubrum (nicht: bei den Unterschriften) fälschlich den Namen des Richters anführen, der ausweislich des Sitzungsprotokolls bei der Verkündung der Entscheidung zugegen war, ist als so genanntes Kanzleiversehen anzusehen (Urteilsausfertigung stimmt nicht mit der Urschrift überein). Ein solches Kanzleiversehen ist ("jederzeit") vom Urkundsbeamten der Geschäftstelle richtig zu stellen (§ 155 FGO i.V.m. § 317 Abs. 4 der Zivilprozessordnung --ZPO--; Senatsbeschluss vom 30. November 1998 I R 42/98, BFH/NV 1999, 792; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 107 FGO Rz. 7). Für die Prüfung, ob die Revision zuzulassen ist, ist das Urteil in seiner Urschrift heranzuziehen.
c) Der Kläger hat aus einem von ihm angenommenen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Beratung und Verkündung geschlossen, dass an der Beratung schon der Richter teilgenommen habe, der zur Richterbank bei der Verkündung gehörte (Richter am FG D); damit sollte vom Kläger wohl ebenfalls vorgetragen sein, dass diese Teilnahme an der Beratung auch eine Abstimmung unter Ausschluss des bei der Verkündung nicht mehr anwesenden Richters (Richter am FG B), der an der Verhandlung teilgenommen hatte, eingeschlossen habe. Diese Vermutung des Klägers ist aber nicht durch einen entsprechenden Tatsachenvortrag gestützt. Auch bei einem zeitlichen Zusammenhang zwischen Urteilsberatung und anschließender Urteilsverkündung ist es nicht ausgeschlossen, dass die Richterbank im Zeitpunkt der Urteilsverkündung gegenüber der bei der Urteilsberatung verschieden ist. Ausweislich des Sitzungsprotokolls --dem nach § 94 FGO i.V.m. § 165 Satz 1 ZPO eine Beweiskraft für die Förmlichkeiten des Verfahrens einschließlich der Besetzung des Gerichts (§ 160 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) zukommt (z.B. BFH-Beschlüsse vom 7. Dezember 2000 IX B 53/00, BFH/NV 2001, 631; vom 19. Dezember 2000 IX R 29/00, BFH/NV 2001, 638; Tipke in Tipke/Kruse, a.a.O., § 94 FGO Tz. 13)-- hat eine Änderung der Richterbank erst zur Verkündung des Urteils stattgefunden. Dass eine Fälschung des Protokolls vorliegt (§ 94 FGO i.V.m. § 165 Satz 2 ZPO), ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
2. Das FG hat gegen seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 FGO) nicht verstoßen.
a) Im angefochtenen Urteil ist als tragender Grund für die Klageabweisung angeführt, dass die in § 60 Abs. 1 der Abgabenordnung formulierten Anforderungen an die Konkretisierung der Satzungszwecke und der Art ihrer Verwirklichung nicht erfüllt sind. Denn der Vereinszweck --insbesondere die Unterstützung von …opfern-- sei nur erreichbar, wenn fehlerhaftes Handeln der … zutreffend als fehlerhaft erkannt werde. Die Satzung lasse indessen nicht erkennen, durch Anwendung welcher Methoden oder welcher Verfahren auf der Basis welchen Wissens mögliches Fehlverhalten oder mögliche Fehlentwicklungen in der … erkannt werden sollten. Diesen Verstoß gegen die so genannte formelle Satzungsmäßigkeit hat das FG nach seinen Ausführungen verdeutlichen wollen, indem es auf die Beiträge im Internet mit "unsachlichem Inhalt" bzw. mit "pauschalen Diffamierungen" (als --so das FG-- Ausdruck der tatsächlichen Geschäftsführung des Klägers) hingewiesen hat. Es hat dabei aus diesen Beiträgen auf eine entsprechende Handhabung in den Streitjahren geschlossen und dem Kläger vorgehalten, eine Verwirklichung seiner Satzungszwecke "u.a. durch Verbreitung von Diffamierungen und Polemik" zu betreiben.
b) Das FG-Urteil stützt sich damit entgegen der Ansicht des Klägers nicht "im wesentlichen auf die Internet-Homepage und deren Inhalte", sondern auf eine fehlende Darlegung der Art der Verwirklichung der Satzungszwecke in der Satzung. Im Übrigen hat sich das FG entgegen der Ansicht des Klägers mit der Frage der Zurechnung dieser Äußerungen zum Kläger auseinander gesetzt. Zum Beitrag im "Forum" der Internetseite wird vom FG darauf verwiesen, dass es eine redaktionell bearbeitete Überschrift gegeben habe und der Beitrag jedenfalls vom Kläger geduldet worden sei.
3. Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) liegt nur vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (Senatsbeschluss vom 14. Juni 1999 I B 127/98, BFH/NV 1999, 1609, m.w.N.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör und die richterliche Hinweispflicht des § 76 Abs. 2 FGO verlangen jedoch nicht, dass das Gericht die maßgebenden Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert oder sogar die einzelnen für die Entscheidung erheblichen (rechtlichen oder tatsächlichen) Gesichtspunkte im Voraus andeutet (Senatsbeschluss in BFH/NV 1999, 1609). Für eine schlüssige Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 FGO) ist im Übrigen die substantiierte Darlegung erforderlich, was der Beteiligte bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und inwiefern dieses Vorbringen möglicherweise zu einer anderen Entscheidung des Gerichts hätte führen können (s. z.B. BFH-Beschluss vom 20. Januar 2000 III B 57/99, BFH/NV 2000, 861). Zur Verwertung des Ergebnisses der Internet-Recherche durch das FG ist vom Kläger nicht bestritten worden, dass die Recherche --wie im Urteil beschrieben-- Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen war; dieser Umstand musste auch im Sitzungsprotokoll nicht besonders hervorgehoben werden, da die Recherche (bzw. die ausgedruckten Ergebnisse) zu dem im Protokoll erwähnten "Inhalt der Akten" zu rechnen sind. Der Kläger hatte damit im Rahmen der mündlichen Verhandlung ausreichend Gelegenheit, die von ihm geltend gemachte fehlende oder unzureichende Verantwortlichkeit für die Inhalte darzulegen.
Fundstellen